Wenn das Ziel fehlt Laschets Problem ist die "dritte Sache"
19.09.2021, 16:54 Uhr
Armin Laschet setzt im Wahlkampf auf Angriffe gegen den Konkurrenten Olaf Scholz.
(Foto: imago images/reportandum)
Noch eine Woche bis zum Wahlsonntag. Wird sich die Strategie, mit der die Union die Aufholjagd versucht, nochmal ändern? Oder geht das gar nicht, weil dann sichtbar würde, dass ihr die inhaltliche Klammer fehlt?
Die letzte Woche des Wahlkampfs bricht an, im letzten von drei Triellen werden die Kanzlerkandidatin und die Kandidaten nochmal versuchen, a) die eigene politische Agenda als notwendigen Neuanfang darzustellen und nicht zu erleichtert darüber zu wirken, dass es mit dem Kanzleramt nichts wird (Baerbock), b) unangreifbar zu erscheinen und unbequeme Themen so komplex und langweilig wie möglich darzustellen (Scholz), sowie c) auf mögliche Nachfrage wenigstens drei eigene Ziele parat zu haben und ansonsten die Schwachstellen der gegnerischen Lager anzuprangern (Laschet).
Für Letztgenannten, den Kanzlerkandidaten der Union, bergen solche direkten Konfrontationen bei weitem das größte Risiko. Denn Armin Laschets Strategie des Frontalangriffs auf den Gegner trägt zwar zur Unterhaltung des Publikums bei, ist jedoch nur messbar erfolgreich, wenn der Angegriffene auch wirklich ins Straucheln gerät. Dafür ist SPD-Mann Olaf Scholz die denkbar schwierigste Zielscheibe, weshalb man Laschets Attacken zwar gern verfolgt. Bessere Zustimmungswerte indes kann er daraus bislang kaum gewinnen.
"Wir brauchen jetzt ein Thema"
Zum Problem wird das, wenn die eigene Taktik sich beinahe ausschließlich an der Konkurrenz abarbeitet, an den komplizierten Finanzskandalen, zu denen Scholz an diesem Montag vor dem Finanzausschuss aussagen muss, an der Koalitionsoption Rot-Grün-Rot, die jedoch nicht mehr zum Schreckgespenst zu taugen scheint. Aber lässt der Zustand der Union Laschet zu dieser Strategie auf den letzten Metern noch eine Alternative?
Selten bringt ein eher nebenbei gefallener Satz das Dilemma einer Partei so gnadenlos auf den Punkt wie dieser: "Wir brauchen jetzt ein Thema, ähnlich wie die Grünen das Klima haben." Er hat mindestens das Zeug zum Spruch des Monats, dieser Satz von Herbert Reul, CDU-Politiker aus NRW, aufgeschnappt vom "Spiegel", als der nordrhein-westfälische Innenminister vor kurzem die Seniorenunion in Hamburg mit einem Besuch beehrte.
Fast rührend wirkt es, wie Reul so offen das eklatanteste Defizit der Union benennt. Die Union hat kein Thema, so lautet der Umkehrschluss aus Reuls Aussage, und diese gewinnt an Dramatik, wenn man sich klar macht: Das, was Reul ein "Thema" nennt, ist nichts anderes als ein politisches Anliegen. Das, was Menschen mit Gestaltungswillen antreibt, wofür sie werben und streiten. Das, so wäre zu hoffen, weshalb ein Mensch beschließt, Politik zu machen.
Reul schielt mit seinem Satz rüber zu den Grünen, fast ein wenig neidisch. Die haben da so etwas, es klingt bei ihm, als sei ein politisches "Thema" der neue heiße Scheiß. Und Tatsache: Er hat vollkommen Recht. Ein Thema ist in der Tat das, was man heutzutage braucht, was die CDU bräuchte, weil dieses Volksparteien-Ding aus den 80ern und 90ern und dieses Merkel-Ding aus den letzten 16 Jahren nicht mehr funktioniert.
Ein bunteres Land schafft eine buntere Politik
Diese Zeiten, als die Frage weniger war, wie viele Menschen die Union von sich überzeugen kann, sondern vor allem, ob sie die ohnehin Überzeugten auch an die Wahlurne kriegt, sie werden nicht wiederkommen. Weil Deutschland diverser geworden ist, pluralistischer, schlicht - bunter. Ein bunteres Land schafft sich eine buntere und auch kompliziertere politische Landschaft, in der zukünftig laut Prognosen noch zwei bis drei weitere Parteien Platz finden könnten.
Umfragewerte von 40 Prozent, die die Union im Mai vergangenen Jahres erreichte, schienen solchen Prognosen zu widersprechen. Doch verdankte die Partei den Höhenflug Angela Merkels Vertrauensbonus und dem erfolgreichen Pandemie-Management. Den Deutschen war nach Beständigkeit zumute. Die hohen Umfragewerte wiegten die Partei in Sicherheit, ließen sie hoffen, dass der Schrumpfprozess der Volksparteien, der beim Nachbarn Niederlande, aber auch in vielen anderen Demokratien Europas schon abgeschlossen ist, die Union - anders als die SPD - verschonen würde.
So verloren die Christdemokraten kostbare Zeit, auch wenn offen sichtbar war, dass sich Deutschland in seiner Bevölkerungsstruktur und auch in den politischen Überzeugungen und Interessen längst gewandelt hat und weiter wandelt. Mit dieser Modernisierung der Gesellschaft hat die Union nicht Schritt gehalten und noch weniger mit den Herausforderungen der heutigen Zeit. Sie hinkt hinterher. Schon die Ehe für alle musste ihr der Koalitionspartner SPD durch ein geschicktes Manöver abtrotzen.
Witze aus dem Pleistozän
Annegret Kramp-Karrenbauers Versuch, in einer Büttenrede intergeschlechtliche Menschen lächerlich zu machen, war der Anfang vom Ende ihres Amtes als Parteichefin. Aus heutiger Sicht, da die LGBTQ-Szene stöhnt, weil ihre Regenbogenfahne so populär ist, dass manche Firmen oder Verbände allein aus diesem Grund damit für sich werben, wirken AKKs Faschingswitze nicht wie aus 2019, sondern mehr so aus dem Pleistozän.
Eine zweite offene Flanke der Union ist das Klima, das die Grünen ja laut Herbert Reul als Thema schon besetzt haben. So bereitwillig, wie es die Union macht, müsste man den Grünen den Kampf gegen die Jahrhundertbedrohung Klimawandel in der heutigen Zeit aber nicht überlassen.
Immerhin: Während die CDU 2017 unter anderem mit einem Flyer für sich warb, auf dem der Punkt Klimaschutz bei fünf zentralen Anliegen nicht mal vorkam, gibt es im Jahr 2021 ein zwei Maßnahmen umfassendes "Klimapaket" im frisch vorgestellten Sofortprogramm. Auch einen Klima-Beauftragten haben die Christdemokraten in ihrem eilig zusammengestellten "Zukunftsteam". In welcher Form sich der als kompetent geltende Vize-Fraktionschef Andreas Jung nach der Wahl für den Klimaschutz einbringen wird, bleibt allerdings offen.
Dramatischer: Zur Verabschiedung eines grundgesetzkonformen Klimaschutzgesetzes musste die CDU-geführte Bundesregierung im Frühjahr erst vom Bundesverfassungsgericht verdonnert werden. Im ursprünglichen Gesetz hatte man nur unzureichende Ziele bis 2030 beschlossen und wirksamen Klimaschutz damit auf die Zeit danach vertagt. So jedoch wurden nach Ansicht der Richter die nötigen CO2-Einsparungen auf Zeiträume nach 2030 verschoben, und damit zulasten der jüngeren Generation. Ähnlich wie Reuls Satz muss man sich diesen Sachverhalt auf der Zunge zergehen lassen: Per Gerichtsurteil muss die Bundesregierung dazu gezwungen werden, beim Regieren auch die Zeit nach 2030 in den Blick zu nehmen.
Keine Wagnisse, keine Zumutungen
Während es der SPD inzwischen besser gelingt, sich neben der sozialen Gerechtigkeit und 12 Euro Mindestlohn auch den Klimaschutz mit auf die Fahnen zu schreiben, kommt die Union aus ihrer 2017er-Haltung "Für ein Land, in dem wir gut und gerne leben" nicht heraus. Es geht um die Verlängerung der Gegenwart: Wohlstand sichern, keine Wagnisse eingehen, keine Zumutungen verlangen - auf Sicht fahren.
Und wenn Armin Laschet dieser Tage für vieles zu Unrecht kritisiert und lächerlich gemacht wird - Gummistiefel sind falsch, Lederschuhe aber auch, mal ist er zu leutselig, dann wieder unwirsch -, so lässt sich das Tief der Union doch an ihm festmachen. Er schafft es nicht, die Visionslosigkeit der Union kraft eigener Bühnenpräsenz zu überdecken. "Nur den Kanzler stellen reicht nicht", sagt Herbert Reul. Laschet weiß das auch, aber eine Lösung hat er nicht. "Wir wollen regieren, nicht weil wir regieren wollen, weil wir Lust haben am Regieren, sondern weil wir regieren müssen, damit Deutschland einen guten Weg nimmt", rief er beim Auftakt von CDU und CSU in die heiße Wahlkampfphase. Die Union muss regieren, weil die anderen aus ihrer Sicht unfähig sind. Aber verleiht ihr das selbst die nötige Fähigkeit?
Am Tag nach der Jahrhundertflut im Westen Deutschlands wird Armin Laschet im WDR aus Aachen zugeschaltet: Er war vor Ort, hat die Zerstörung gesehen, die Trauer erlebt, das Bangen um diejenigen, die noch vermisst werden. "Weil jetzt ein solcher Tag ist, ändert man nicht die Politik", sagt Laschet. Nach einer Nacht, in der Hunderte mitten in Deutschland durch eine von Starkregen verursachte Flut geliebte Menschen und geliebte Heimat verloren hatten und das ganze Land fassungslos auf ihr Unglück starrte, zeigt Laschet Beharrung und Abwehr.
Vielleicht liegt hier der entscheidende Unterschied zwischen ihm und Noch-Kanzlerin Angela Merkel. Nach dem Kernreaktorunfall in Fukushima erkannte die, dass auch für die Union der Moment für einen Paradigmenwechsel gekommen war: den Ausstieg aus der Atomenergie. Sie brachte zu Ende, was Rot-Grün begonnen und sie selbst dann wieder kassiert hatte, sie drehte eine Politik, für die ihre Partei sei Jahrzehnten stand, um 180 Grad.
Manchmal muss "entschieden werden"
Wenn viele Deutsche, auch solche, die Merkel nie gewählt haben, ihr heute nachsehen, dass sie in der Krisenbewältigung, die ihre Amtszeit prägte, immer nur reagierte, nie Zukunft entwarf, nie vor die Lage kam, so hat das viel mit der Anerkennung für ihre Bereitschaft zu tun, auf Ausnahmesituationen mit einem Paukenschlag zu antworten. Ohne Rücksicht auch auf die Befindlichkeit der eigenen Partei. Oder, wie sie selbst im September 2015 formulierte, als sie die deutsche Grenze für syrische Flüchtlinge offen ließ: "Es gibt Situationen, in denen muss entschieden werden."
Wer entscheiden soll, braucht Ziele. Mitte August nannte Laschet im Interview mit Focus Online auf die Frage nach den Themen, die ihm nach der Wahl am wichtigsten wären, ein Digitalisierungsministerium und Bürokratieabbau, damit Deutschland die Klimaziele erreiche und dennoch Industrieland bleibe. "Eine dritte Sache?", bittet die Reporterin. Stille kehrt ein, der Kanzlerkandidat denkt nach für drei, vier, fast fünf Sekunden, dann Laschet: "Ja, was machen wir noch?" So uneitel, untaktisch wirkt der Unionschef in diesem Moment, in dem er schließlich darauf verweist, man werde "noch rechtzeitig ein 100 Tage-Programm vorstellen", dass man sich wünscht, die Zeiten wären so rosig, dass jemand mit dieser Unbedarftheit tatsächlich das Land führen könnte.
Quelle: ntv.de