Rot-Rot-Grün in Thüringen "Der Wolf hat Kreide gefressen"
20.11.2014, 20:01 Uhr
Mehr als zwei Monate hat es gedauert, jetzt liegt er auf dem Tisch: der Koalitionsvertrag für die erste rot-rot-grüne Landesregierung in Deutschland. Es ist eine historische Entscheidung, die SPD, Grüne und Linke in Thüringen treffen - und ein politisches Experiment: Die Linkspartei macht ihren Bündnispartnern viele Zugeständnisse für ein gemeinsames Regierungsprogramm. Sollte jetzt die Basis von Grünen und Linken zustimmen, könnte mit Bodo Ramelow 25 Jahre nach der friedlichen Revolution gegen das SED-Regime erstmals ein Linker Ministerpräsident einer Landesregierung werden. Eine Vorstellung, die nicht jedem gefällt - für andere aber ein Versuch wert ist.
Die in Berlin herausgegebene Welt fühlt sich von der Linkspartei betrogen: "Der Wolf hat Kreide gefressen, und zwar kräftig. Alle Schulformen in Thüringen bleiben erhalten, was die Linke ausdrücklich nicht wollte. Vom Kampf gegen den Euro-Schutzschirm ist keine Rede mehr, obwohl die Linke genau diesen Kampf auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Über Stromleitungen nach Bayern wird man nachdenken, plötzlich. Ist die Linkspartei vom Zug ins Abseits abgesprungen, auf dem sie seit 1990 Lokführer war? Nein. Sie sagt nur nicht mehr die Wahrheit darüber, wie sie wirklich denkt und fühlt. Der erste Ministerpräsident der Linkspartei ist Westimport. Das macht die Sache aber nicht besser, nur verlogener. Bodo Ramelow kommt ins Amt wie Martin Luther als 'Junker Jörg' auf die Wartburg, nur dass Ramelow nicht sich selber tarnen muss, sondern die Partei, der er angehört".
Für die Frankfurter Rundschau ist der politische Wandel in Thüringen einen Versuch wert: "Das rot-rot-grüne Bündnis in Erfurt hat das Zeug, mehr zu bewirken als nur neue Machtverhältnisse in Thüringen. Wenn es sich in den nächsten Monaten als tragfähig erweist, wird es die politische Fantasie der beteiligten Parteien anregen, auch anderswo über Mehrheiten links der Union (und der AfD) nachzudenken. Bundespolitisch ändert das neue Erfurter Triumvirat dagegen erst einmal überhaupt nichts."
Auch die Nürnberger Nachrichten können der neuen Koalition etwas Gutes abgewinnen: "Eine rot-rot-grüne Regierung in Thüringen wäre auch deshalb ein spannendes Experiment, weil die Alternative nur die Fortsetzung der bisherigen Großen Koalition ist. Machtwechsel aber gehören zur Demokratie, denn sie sorgen für frischen Wind. Das gilt prinzipiell auch für die Bundesregierung, aber zu diesem Dreierbündnis ist der Weg noch sehr, sehr weit. Dazu muss die Linke zum Beispiel dringend ihr Verhältnis zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr oder zum Euro überdenken - und es sich und anderen wenigstens etwas leichter machen".
"Wenn sich das rot-rot-grüne Bündnis in Thüringen als tragfähig erweist, wird es die Fantasie der beteiligten Parteien anregen, auch anderswo über Mehrheiten links der Union nachzudenken - zum Beispiel in Berlin", konstatiert der Kölner Stadt-Anzeiger. Auch wenn das neue Erfurter Triumvirat bundespolitisch erst einmal überhaupt nichts ändere. Denn, so heißt es weiter: "Die großen Konfliktthemen der Außen- und der Verteilungspolitik lassen sich auf Bundesebene eben nicht ausklammern. Zudem führt SPD-Chef Sigmar Gabriel seine Partei straff in Richtung Mitte. Die Linke präsentiert sich und den Zustand ihrer politischen Kultur im Bund dagegen so desolat wie lange nicht. Es kann aber gut sein, dass das Thüringer Projekt die Klärungsprozesse in der Linken so vorantreibt, dass der seit Jahren mühsam gewahrte Burgfrieden zwischen Reformern und Radikalen zerbricht und es eine Entscheidung im Richtungskampf gibt. Den würden die vornehmlich ostdeutschen Realos allein wegen ihrer zahlenmäßigen Stärke gewinnen".
Gelassen gibt sich die Rheinpfalz aus Ludwigshafen: "Auch der erste Linken-Ministerpräsident wird die Zwänge der Realpolitik spüren (überdies unter dem Diktat einer klammen Landeskasse stehen) und Thüringen nicht in ein sozialistisches Musterland verwandeln können. Der in Erfurt geschlossene Koalitionsvertrag hat jedenfalls nichts Grundstürzendes. Die Regierungserfahrung vermag bestenfalls die Linke zu verändern in Richtung einer Sozialdemokratisierung. Im schlimmsten Fall scheitert die rot-rot-grüne Landesregierung. Vielleicht wäre das ganz heilsam für SPD und Grüne und ihre Suche nach neuen Machtoptionen. Sie würden dann merken, wie schwierig es ist, in einer Dreierkoalition mehr regiert zu werden als selbst zu regieren".
Zusammengestellt von Susanne Niedorf
Quelle: ntv.de