Drittes Griechenland-Rettungspaket "Tsipras sitzt endgültig am längeren Hebel"
19.08.2015, 21:13 Uhr
(Foto: picture alliance / dpa)
Der Bundestag gibt grünes Licht für das dritte Griechenland-Hilfspaket. Während das Ergebnis mit 454 Ja- und 113 Nein-Stimmen deutlich ausfällt, steigt die Zahl der Abweichler in der Unionsfraktion. Trotz der Drohung von CDU-Fraktionschef Volker Kauder kommen mehr als die Hälfte der Gegenstimmen aus CDU und CSU. Die Kommentatoren der deutschen Presse diskutieren über die Lehren aus dem parteiinternen Konflikt - und Tsipras neue Machtstellung.
Das Handelsblatt spricht angesichts der Gegenstimmen aus den Unionsparteien lediglich von einem "Denkzettelchen" für die Kanzlerin: "Der interne Widerstand fiel mit 63 Gegenstimmen gerade noch in den Rahmen des zuletzt Gewohnten. Zuvor waren Informationen über bis zu 150 Aufständische zirkuliert. Sieg bedeutet für Merkelianer diesmal, dass nichts schlimmer wird. Der Aufstand fällt aus, es reicht nur zum Denkzettelchen." Am Ende, so die Zeitung weiter, zeige sich: "Machiavellismus triumphiert über Meinungsfreiheit." Mit dem neuen Rettungspaket sei die Griechenlandfrage jedoch noch lange nicht beantwortet: "Die Arbeit beginnt erst. Die Deutschen sind in dieser Frage nervös geworden, geduldig sind sie nur mit der Hauptperson: Angela Merkel."
Die Süddeutsche Zeitung sieht in der gestiegenen Zahl der Abweichler eine größere Bedrohung für die Kanzlerin: "Es käme (...) einer Selbsttäuschung gleich, wenn Angela Merkel die Renitenz (...) nur als eine Art natürlichen Schwund abtun würde. Dagegen spricht die sehr wahrscheinlich hohe Zahl derer, die zwar mit Ja, damit aber gegen ihre Überzeugung gestimmt haben. Gerade weil die Disziplin des Regierens der Union sonst so wichtig ist, sind die offenen Zweifel, um nicht zu sagen das Misstrauen von einem Fünftel der Fraktion so bedeutsam. Sie verdeutlichen, dass CDU und CSU in einem der wichtigsten Politikfelder nicht mehr geschlossen hinter Merkel stehen. (Die) SPD ist für die Kanzlerin verlässlicher als die eigene Gefolgschaft. Dieser Befund ist für Merkel nach der Abstimmung im Bundestag noch genauso schlimm wie vorher. Wenn nicht schlimmer."
Der Münchner Merkur stimmt mit den Kritikern des Rettungspaketes in der Sache überein: "Wolfgang Bosbach & Co. haben ja Recht: Es wäre die beste aller schlechten Lösungen gewesen, Athen aus der gemeinsamen Währung zu entlassen, statt die Leiden der armen Griechen mit Milliarden deutscher Steuergelder unter heillosen Verbiegungen und Überdehnungen bestehender Verträge bis zum St.-Nimmerleinstag fortzuschreiben." Die politische Machbarkeit sei jedoch nicht gegeben und so stelle sich die Frage: "Was nützt es also den Rebellen, so ehrenhaft ihr Einsatz auch sein mag, sich im Besitz einer finanz- und wirtschaftspolitischen Wahrheit zu wissen, wenn die nationalen Säulen der EU, seien sie in Rom verankert, in Paris oder Madrid, sich strikt weigern, diese zu erkennen?" Bezugnehmend auf die Kritik des Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter, die Kanzlerin fahre nur "auf Sicht", was auch keine Lösung sei, schreibt die Zeitung: "Die Schuldenkrise gleicht einem Ozean gespickt mit Eisbergen, in dem nur auf Sicht gefahren werden kann. Wer der Kanzlerin unterstellt, sie beherrsche die Kunst der Nautik ungenügend, der muss sagen, wer es an ihrer Stelle versuchen soll."
Die Welt blickt nach der Billigung des Rettungspaketes durch das deutsche Parlament nach Athen und sieht Regierungschef Alexis Tsipras in gestärkter Position: "Die Bilanz von Tsipras knapp sieben Monate nach seinem Wahlsieg ist ein einziges Desaster - für die griechischen Bürger, darunter zuvörderst jene, die ihn gewählt haben. Nicht aber für ihn selbst. Gewiss, die Syriza-Bewegung des griechischen Premiers steht vor der Spaltung. Aber Tsipras ist nach wie vor populär. Nach Beginn des dritten Hilfsprogramms wird es einen Stopp der Auszahlungen mitsamt Grexit nur geben, wenn Tsipras sich komplett verweigert. Solange er gegenüber den Gläubigern auch nur vorgibt, guten Willens zu sein, werden sie Griechenland nicht fallen lassen. Sonst müssten sich Merkel und andere Regierungschefs die Frage gefallen lassen, warum sie nochmals zweistellige Milliardenbeträge in eine Konkursverschleppung gesteckt haben. Tsipras sitzt endgültig am längeren Hebel."
"Es ist schon kurios, dass die Hoffnungen nun auf einer Regierung in Athen ruhen, deren Führer bis noch vor kurzem die Sparpolitik in Grund und Boden verdammten, nun aber die große Wende ins Werk setzen sollen und das nach eigenem Beteuern auch wollen", kommentiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Dennoch seien selbst die besonders Skeptischen unter den Europartnern bereit, "Griechenland abermals einen Vertrauensvorschuss zu gewähren". Der bröckelnden Fraktionsdisziplin in der Union misst die Zeitung keine große Bedeutung bei: "In jedem Fall wäre es merkwürdig gewesen, wenn in einer wichtigen europapolitischen Angelegenheit das ganze Hohe Haus stramm auf Linie gewesen wäre. Schließlich sind Kontroverse und Dissens das Salz in der demokratischen Suppe, und das gilt auch für die Europapolitik."
Zusammengestellt von Aljoscha Ilg.
Quelle: ntv.de