Tuchel überrascht mit Analyse Kimmichs Wutausbruch zeigt, wie schlecht es dem FC Bayern geht
19.02.2024, 06:05 Uhr
Joshua Kimmich musste früh auf die Bank und sah fassungslos mit an, was in Bochum passierte.
(Foto: IMAGO/Jan Huebner)
Die Krise beim heftig taumelnden FC Bayern spitzt sich zu - die Lage für Trainer Thomas Tuchel wird immer brenzliger. Vom Klubchef bekommt er zwar eine unmissverständliche Rückendeckung, aber die Zahl der Baustellen wächst ins Unübersichtliche.
Wenn Jan-Christian Dreesen ein Mann ist, der Wort hält (bitte keine Zweifel!), dann ist Thomas Tuchel auch am nächsten Samstag noch Trainer des FC Bayern. "Selbstverständlich" werde das so sein, betonte der Klubchef, der zwar nichts von "monströsen Trainer-Unterstützungsbekundungen" hält, aber doch etwas klarstellen wollte, an diesem Sonntagabend, an dem nichts selbstverständlich war. Nicht aus Sicht des euphorischen VfL Bochum, der die Mannschaft des Rekordmeisters in den nächsten "Horrorfilm" schickte und das abschließende Spiel des 22. Spieltags der Fußball-Bundesliga mit 3:2 (2:1) nach Rückstand gewann. Nicht aus Sicht des FC Bayern, der sich aus dieser Spielwoche mit drei Niederlagen (!), mit Ratlosigkeit und einem Kabinengang-Eklat verabschiedete.
Es gibt über die Mannschaft des Rekordmeisters so viel zu erzählen, dass man vom Anfang das Ende nicht mehr sieht. Und am Ende nicht mehr weiß, wo alles angefangen hat. Immerhin waren die Verantwortlichen bemüht, den Scherbenhaufen, der sich da aufgetürmt hatte, so gut und so schnell es geht abzutragen. Wohl wissend, dass über ihnen in den nächsten Tagen, bis Samstag, wenn RB Leipzig zu Besuch kommt, weiter Glas zerschlagen wird. Die Trainerdebatte war also abmoderiert. Und das in einer Deutlichkeit, die keine Missverständnisse aufkommen lassen kann. Sollte sich also anderes tun, wäre dem Chef Wortbruch vorzuwerfen.
Kimmich faucht Löw an und bekommt Stress
Und auch an Joshua Kimmich und Zsolt Löw soll sich bloß kein nächster Großbrand entfachen. Auch wenn die Funken schon mächtig sprühten. Der frustrierte Antreiber, der das Spiel trotz allen Bemühens abermals nicht an sich reißen konnte und oft fahrig agierte, und der Co-Trainer waren auf dem Weg in die Katakomben heftig aneinander geraten. Kimmich hatte dem Assistenten etwas zugeraunzt, was dem überhaupt nicht gepasst hatte. Wütend wollte Löw dem Spieler hinterherrennen, wurde aber von mehreren Mitarbeiten des FC Bayern zurückgehalten, an der Jacke zurück aufs Grün gezerrt. Da die Nerven bei den Münchnern eh schon blank liegen, liegen sie jetzt noch ein bisschen blanker. Ausgerechnet Tuchel, der in den vergangenen Wochen ja nicht gerade rücksichtsvoll über seine Spieler geurteilt hatte, gab nun den Mediator. Er wisse, was los war, erzählen wollte er es aber nicht. "Das sind Fußballkabinen, da ist es emotional. Gar nichts sagt das aus." Das Ganze sei ein "ziemlich normaler Vorfall nach einer Niederlage". Konsequenzen gebe es nicht.
Normal und Niederlage in einem Satz, bis vor Kurzem war das für den FC Bayern noch undenkbar. Aber die Dinge haben sich gedreht. Häufiger als ihnen lieb ist, verlassen sie in diesen Tagen den Platz als Verlierer. Tuchel weist nach Punkten die schlechteste Bilanz seit Jürgen Klinsmann auf. Nach 333 Tagen Beziehung ist nicht klar, wie es weitergehen soll. Nur das "ob" ist ja in Stahl gegossen worden. Mit nun acht Punkten Rückstand auf Bayer 04 Leverkusen ist im Kampf um die Meisterschaft eine Vorentscheidung gefallen. Und ob es in der Champions League wirklich zum großen Wurf reicht, um sich gegen die erste titellose Saison seit 2012 zu stemmen?
Tuchel bemüht seine Lieblingsstatistik
Trainer Tuchel, der die obligatorische Pressekonferenz aus Zeitdruck absagte und stattdessen in den Katakomben kurz Rede und Antwort stand, war im Prinzip einverstanden gewesen, mit dem, was er von seiner Mannschaft gesehen hatte. Deswegen fühle sich die Niederlage auch anders als jene katastrophale in Leverkusen (0:3) und jene unerklärlich bei Lazio Rom (0:1) in der Champions League an, befand der Trainer. Er empfand es sogar als ungerecht, dass die Bochumer gewonnen hatten. Den Schuldigen suchte Tuchel aber nicht bei Gott, nicht beim Schiedsrichter, nicht beim Gegner, nicht im benachbarten Knast, auch nicht auf der angrenzenden A40. Er suchte und fand sie (die Schuldigen!) schnell in höherer Gewalt und den eigenen Reihen. "Was schiefgehen kann, ist heute schiefgegangen. Es ist extrem viel gegen uns gelaufen. Wir hatten viele hochkarätige Chancen." Er lobte den Aufwand und dass die richtigen Spieler wieder Möglichkeiten hatten. Was heißt, dass der FC Bayern im Spiel nach vorne nicht mehr so rat- und planlos wirkte, wie zuletzt. Die quasi nicht existente Offensive stellte sich zurück in den Dienst. Aber Tuchel haderte eben mit "Murphys Law".
Und dann versteckte sich Tuchel wieder hinter jenem Wert, der ihm in dieser Saison der liebste ist. Der von einer absoluten Nerd-Statistik zur Weltberühmtheit als Erklärung für verlorene Spiele geworden ist. "Wir hatten einen xG-Wert von 3,4", verriet der Trainer. Will sagen: Der FC Bayern hatte sehr viele Top-Gelegenheiten und nutzte sie nicht. Allen voran Harry Kane nicht. Nach 19 Minuten war der Engländer alleine durch und schloss aus zu großer Distanz frei stehend ab. Er hätte auch einfach nach rechts zu Thomas Müller rüberlegen können. Das sah auch und vor allem Thomas Müller so und teilte dem Stürmer lautstark mit. Es war seine vielleicht auffälligste Szene, denn auch der zweite große Führungsspieler neben Kimmich, konnte diese Mannschaft nicht mit- und das Steuer im Ruhrstadion an sich reißen. So hatte Kane das 2:0 liegengelassen und damit die Vorlage von Jamal Musiala nicht veredelt, der erst das 1:0 (14.) mit einem knackigen Schuss unters Tordach erzielte und den Engländer danach mit einem genialen Außenrist-Pass überragend in Szene gesetzt hatte.
Die Unterbrechung tut dem FC Bayern weh
Bei den Bayern stimmte viel, nach fünf mutigen Minuten des VfL, hatten sie die Dinge auf ihre Seite gezogen. Die Spielfreude, die dieses Mal im Abschlusstraining statt der taktischen Einheit gefördert worden war, übertrug sich ins Regen und Wind durchpeitschte Ruhrstadion. Die Ketten um die Körper der Münchner schienen sich langsam zu lockern. Die vermisste Freiheit zum Zocken blitzte immer wieder auf, besonders bei Musiala, der zusammen mit Raphaël Guerreiro dem jungen Tim Oermann einiges Kopfzerbrechen bereitete. Doch mitten hinein in den Houdini-Prozess des FC Bayern flogen die Tennisbälle. Erst aus dem Bochumer Block, dann aus dem Münchner. Die Partie war mehr als zehn Minuten unterbrochen. Der VfL nutzte die Zeit, um eine Korrektur vorzunehmen. Der Sechser Erhan Masovic rückte ein wenig nach rechts, um Oermann zu helfen. Eine gute Idee.
Musiala verlor seine Freiheiten und den Ball. Weil Kimmich im Mittelfeld in einem robusten Zweikampf gegen Anthony Losilla den Kürzeren zog, war der Weg für Takuma Asano frei, der sich gegen die uneinigen Minjae Kim und Matthijs de Ligt durchsetzte und Manuel Neuer mit einem platzierten Schuss überwand (38.). Die Bayern pennten, das Stadion bebte. Unter Flutlicht, im peitschenden Regen waren die VfL'er nun angezündet. Oermann grätschte den Ball von Musialas Fuß, im Liegen passte er den Ball weiter. Das war nach dem Geschmack der Fans. Die Bochumer zogen den FC Bayern auf die Ringermatte. Kämpfen, bis einer umfällt. Aber erstmal stieg einer hoch, verdammt hoch. Keven Schlotterback flog in der 44. Minute ungehindert ins Glück, traf zum 2:1. Spiel gedreht, die sich seit Wochen und Monaten ständig wiederholenden Abstimmungsfehler und Blackouts im Bayern-Spiel gnadenlos bestraft. Bochum im Himmel, München am Boden. Und Tuchel einmal mehr fassungslos.
Tore: 0:1 Musiala (14.), 1:1 Asano (38.), 2:1 Schlotterbeck (44.), 3:1 Stöger (78., Foulelfmeter), 3:2 Kane (87.)
Bochum: Riemann - Oermann (46. Gamboa), Schlotterbeck, Ordets, Masovic, Bernardo - Losilla (90.+5 Loosli), Stöger - Asano (89. Förster), Antwi-Adjei (79. Kwarteng) - Broschinski. - Trainer: Letsch
München: Neuer - Mazraoui (32. Upamecano), de Ligt, Kim, Guerreiro (79. Dier) - Kimmich (63. Zaragoza), Goretzka - Müller (79. Tel), Choupo-Moting (63. Sane), Musiala - Kane. - Trainer: Tuchel
Schiedsrichter: Daniel Schlager (Hügelsheim)
Gelb-Rote Karte: Upamecano (Bayern) wegen wiederholten Foulspiels (77.)
Gelbe Karten: Losilla (5), Bernardo (2) - Goretzka (3), Kim (3)
Zuschauer: 26.000 (ausverkauft)
Dieses Mal gab er jedoch nicht so viele Einblicke in das, was er denkt, fühlt. Der Trainer vergrub sein Gesicht zwischen Kappe und Schal, der Mund und Nase bedeckte. Tuchel machte sich mimisch rar und sah mit an, dass die sich die Ketten um seine Spieler wieder etwas fester zuzogen. Der FC Bayern, vor allem die Abwehr, blieb ein anfälliger und nervöser Torso. Bisweilen übertrug sich das auf Torwart Manuel Neuer, der im Spielaufbau öfter als gewohnt Bälle ins Aus haute. Doch es gab tatsächlich etwas, dass die Niederlage "anne Castroper" von den letzten unterscheidet. Die Münchner brachen nicht in sich zusammen, sondern lehnten sich auf. Ab der 63. Minute ohne Kimmich, der seinen Unmut über die Auswechslung deutlich machte. Obwohl es gute Gründe gab. Denn spielerisch hatte er zu wenig bis nichts auf die Kette bekommen.
Und schon wieder Upamecano
Doch bevor sich der FC Bayern nochmal reinbiss in dieses Spiel, flog Dayot Upamecano, der erst nach einer guten halben Stunde für den verletzten (!) Noussair Mazraoui gekommen war. Wieder patzte die Abwehr. Er flog schon wieder, wie unter der Woche gegen Rom. Und wieder hatte er zu aggressiv agiert, ebenfalls wie in Rom, einen Elfmeter verursacht. Sein Ellenbogen war in das Gesicht von Schlotterbeck gekracht. Kevin Stöger trat an und verwandelte mit etwas Glück, Neuer hatte den Ball berührt (76.). Zum dritten Mal erging sich das Stadion im Rausch des "Hooked on a can can". Die Sensation, sie war so nah. Wie vor ziemlich genau zwei Jahren, als die Gastgeber den Rekordmeister mit 4:2 paniert hatten, mit Sensationstoren und unersättlicher Gier. Beim VfL standen nur noch zwei der Helden dieses surrealen Nachmittags in der Startelf, beim FC Bayern waren es drei.
Tuchel wechselte nochmal, brachte Mathys Tel. Mit dem zuvor bereits eingewechselten Leroy Sané brachten die Wut-Bayern die Bochumer ins Wanken. Die warfen sich zwar weiter wie die Wilden in jeden Zweikampf, kamen nur aber häufiger zu spät. In der 86. Minute ließen sie Sané spazieren, bis dieser vor Manuel Riemann stand, aber an der Monsterparade des Keepers verzweifelte, der sich danach selbst elektrisierte, als wäre er eine gut gelungene Kopie der WWF-Legende Ultimate Warrior. Eine Minute später ließ es Kane dann klingeln. Tel hatte sich prima durchgesetzt und den Ball durchgesteckt. Vermutlich war es das "billigste" Tor, dass Kane hernach in der Bundesliga erzielte. Dass die Bayern Blaumann-Mentalität bewiesen, dürfte auf Tuchels fast leeres Argumente-Konto einzahlen.
Was war denn mit Kane los?
Im Stadion kehrte Unruhe ein. Wie oft hatte der VfL Bochum in dieser Saison schon spät Punkte hergeschenkt. Drei Nachspielzeit-Dramen hatten sie hier erlebt. Flanke Tel, die 93. Minute lief, Kane stand offen am langen Pfosten. Und nickte den Ball in Riemanns Hände. Da war er wieder, der Gedanke an den Fluch, den Harry-Kane-Fluch. Der Superstürmer wartet noch im fortgeschrittenen Alter von nun schon 30 Jahren immer noch auf seinen ersten Titel. Jeder, wirklich jeder im Stadion war hernach fassungslos. Die einen vor Glück, die anderen, nunja, vor Fassungslosigkeit. Im Gegenzug verhinderte Neuer mit einer Weltklasse-Flugshow gegen den abgefälschten Schuss von Moritz Kwarteng die endgültige Entscheidung. Der Pulsschlag aus Stahl, der hämmerte laut und schnell. 97. Minute: Sané tanzte, die Bochumer hinterher. Riemann musste wieder retten. Dann Abpfiff.
Kimmich, der zuvor mit leerem Blick alleine in der Coaching-Zone stand und das aufziehende Debakel mit ansah, trottete mit seinen Mitspielern in die Kurve. Und dann zurück Richtung Kabinentrakt. Dort traf er auf Löw. Eine Szene, wie gemalt für die Lage des FC Bayern: Die Stimmung, sie droht endgültig zu kippen.
Quelle: ntv.de