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Niedergang eines Premiumkonzerns Boeings Absturz begann mit einem Flug vor 23 Jahren

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Die Probleme mit dem Türstopfen waren bekannt, sagen Mitarbeiter von Spirit AeroSystems.

Die Probleme mit dem Türstopfen waren bekannt, sagen Mitarbeiter von Spirit AeroSystems.

(Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com)

Seit den 1960er Jahren fliegt die Boeing 737 um die Erde. Doch ihren Ruf als zuverlässiges Arbeitstier hat die Baureihe in der Branche, aber auch bei Fluggästen eingebüßt. Schuld ist das Management von Boeing, das sich vor seinen Ingenieuren versteckt und Flugzeuge von Zulieferern entwickeln lässt.

Die ersten Anzeichen dafür, dass bei Boeing etwas schieflief, gab es bereits im Mai 2001. Die Fusion von Boeing mit dem Flugzeugbauer McDonnell Douglas lag vier Jahre zurück, das neue Management hatte das Ruder übernommen und in die Boeing-Heimat Seattle eingeladen. Dort startete ein Presseflug, ohne dass verraten wurde, wo die Reise mit der 737 hingehen sollte.

Stunden später landete das Flugzeug in Chicago. Das Boeing-Management hatte eine neue Heimat für das Aushängeschild der globalen Flugzeugindustrie gefunden. Jedenfalls für sich und seinen Stab der etwa 500 wichtigsten Mitarbeiter, denn nur sie zogen in die "Windy City" am Lake Michigan. Seit mittlerweile 23 Jahren steuern sie von dort aus das Schicksal des Konzerns - 2700 Kilometer von den Werken in Seattle entfernt, wo der Großteil der 40.000 Boeing-Mitarbeiter lebt und arbeitet.

Vorbei war damit auch die 80-jährige Geschichte von Boeing als "Ingenieurs-Vereinigung", in der selbst die Geschäftsführung Tragflächen designte und Patente hielt, wie es die US-amerikanische Zeitschrift "Atlantic" schreibt. Das neue Team hatte andere Interessen: Aktienkurse und, wie man Kosten reduziert.

"Heftiges, explosives Dekompressionsereignis"

Das Ergebnis dieser Umstrukturierung konnte der Rest der Welt in den vergangenen Wochen beobachten: Kurz nach dem Start in Portland musste eine Boeing 737 MAX von Alaska Airlines umkehren und notlanden. Denn im Steigflug war eine Tür-große Abdeckung herausgebrochen, die in der Kabinenwand einen Notausgang ersetzte. Es kam zu einem "heftigen, explosiven Dekompressionsereignis", wie die amerikanische Behörde für Transportsicherheit (NTSB) das Loch im Flugzeugrumpf klinisch beschreibt.

Boeing
Boeing 214,88

Die genaue Ursache des Vorfalls ist noch unklar, aber wie es scheint, wurde bei Bau und Montage des Rumpfes geschlampt. Denn die Unglücksmaschine war brandneu. Anders als für die Öffentlichkeit kam der Unfall für die Branche aber nicht unerwartet: "Boeing hat seit vielen Jahren Qualitätsprobleme", urteilte der einflussreiche Chef der arabischen Airline Emirates anschließend knallhart im Gespräch mit Bloomberg. "Das ist nur ein weiterer Beleg dafür."

Ein ramponierter Ruf

Speziell die 737 MAX ist inzwischen bei Passagieren verschrien, obwohl die Modellreihe einst das zuverlässige Arbeitstier von Boeing war. Doch 56 Jahre nach dem Start der ersten Maschine ist von diesen Qualitätsmerkmalen nicht mehr viel übrig: "Viele Menschen kennen kein einziges, modernes Flugzeug beim Namen", beschreibt ein Luftfahrtexperte den ramponierten Ruf im "Atlantic". "Aber sehr viele kennen die 737 MAX und wissen, dass es Sicherheitsprobleme gibt."

Denn im Unterschied zu vorherigen Unfällen hatten an Bord der Alaska-Airlines-Maschine alle 171 Passagiere Glück im Unglück: Der Türstopfen brach im Steigflug heraus, alle Fluggäste waren noch angeschnallt. Heraus gesogen wurden nur Telefone und T-Shirts. Niemand starb - anders als 2018 und 2019, als zwei Boeing 737 MAX in Indonesien und Äthiopien abstürzten und alle 346 Menschen an Bord ums Leben kamen.

Die Unfälle dienen als Belege für einen anhaltenden kulturellen Verfall von Boeing, der mit dem Umzug nach Chicago begann. Denn seitdem wird der einstige Premiumkonzern von Skandalen und Pannenserien überschattet. So fanden sich bereits wenige Jahre nach dem Umzug bei der Raumfahrtabteilung rund 25.000 Dokumente, die bei Konkurrent Lockheed Martin gestohlen wurden. Zudem musste ein damaliger Finanzvorstand wegen einer Reihe von Verstößen bei der Vergabe von Regierungsaufträgen ins Gefängnis. Der damalige Boeing-Chef Harry Stonecipher jubelte trotzdem: Er habe die Kultur von Boeing erfolgreich geändert, prahlte er. Der Flugzeugbauer werde endlich wie ein Unternehmen geführt, nicht länger wie eine Ingenieursfirma.

Risiken? Auslagern

Offensichtlich wurde der Kulturwandel beim Bau des Dreamliners. Die 787 war 2004 das erste Flugzeug, das komplett nach den Vorstellungen des neuen Managements entwickelt und gefertigt wurde. Leichter, leiser und aerodynamischer als bisherige Flugzeuge sollte der Dreamliner sein und durch eine modulare Bauweise besonders günstig. Kosten und Entwicklungsrisiken wollte Boeing clever auf den Schultern der Zulieferer verteilen: Die Tragflächen wurden in Japan entworfen, das Höhenleitwerk in Italien, der Rumpf wie bei der 737 MAX von Spirit AeroSystems und weiteren Firmen in den USA und Japan. Dutzende Zulieferer und Auftragnehmer waren schlussendlich am Design des Dreamliners beteiligt, Boeing übernahm nur die Endmontage - die schnell zum Desaster wurde.

Denn als die Bauteile aus dem Ausland in den Werkshallen von Boeing eintrafen, stellte sich heraus, dass viele nicht zusammenpassten oder von ungenügender Qualität waren. Bereits 2006, also nur zwei Jahre nach Projektstart, kursierten Gerüchte über gravierende Probleme, die den Zeitplan gefährden könnten. Wieder und wieder musste Boeing in den Monaten und Jahren darauf Probleme einräumen. Seinen Betrieb nahm der erste Dreamliner schließlich 2011 auf - mit mehr als drei Jahren Verspätung. Aus der besonders günstigen Markteinführung wurde eine besonders teure, die Boeing 13,4 Milliarden Dollar kostete.

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Seitdem ist die Summe weiter gestiegen, denn der Dreamliner ist durch seine modulare Entwicklung im Ausland bis heute ein anfälliges Sorgenkind. Zuletzt musste Boeing die Auslieferung im Februar 2023 stoppen, nachdem Probleme an einem Teil des Rumpfes festgestellt wurden. Vier Monate später stellte Boeing einen weiteren Produktionsfehler an anderer Stelle fest. Anschließend mussten alle neu gebauten Dreamliner auf diesen Fehler untersucht werden.

Probleme waren bekannt

Vorgänge, die sich derzeit bei der MAX-Serie wiederholen, aber auch dort keinesfalls unbekannt sind. Denn auch bei der Weiterentwicklung der 737, die seit den 60er Jahren zuverlässig um die Erde fliegt und von der weltweit mehr als 11.000 Flugzeuge ausgeliefert wurden, wollte das Boeing-Management Zeit und Geld sparen: Statt einen neuen Rumpf und neue Tragflächen zu entwerfen, die zu den größeren Triebwerken passen, blieb es beim äußerlichen Facelift. Die neuen Triebwerke wurden trotzdem verbaut, obwohl sie nicht nur größer, sondern vor allem sehr viel schwerer als die Vorgänger waren: Einmal angebracht, veränderten sie den Schwerpunkt der Flugzeuge, was speziell beim Start zu Problemen führte. Die 737-MAX-Flieger neigen dazu, im Steigflug, wenn der Schub am größten ist, nach hinten abzukippen.

Es handelt sich um ein physikalisches Problem, das Boeing am Computer lösen wollte: Eine Software namens MCAS sollte eingreifen, wenn die Nase der neuen 737-MAX zu weit nach oben geht, sie nach unten drücken und die Maschine stabilisieren. Airlines und Piloten informierte Boeing allerdings nicht über diese Lösung. Als die Software aufgrund eines fehlerhaften Sensors 2018 und 2019 bei den normal verlaufenden Starts von Lion Air und Ethiopian Airlines eingriff, wusste im Cockpit kurz vor dem Absturz niemand, was vor sich ging.

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Zeit und Geld sparen - nach dieser Maxime werden bei Boeing seit inzwischen gut 20 Jahren Flugzeuge gebaut und entwickelt. So war es auch bei der 737 MAX-9 von Alaska Airlines: Probleme mit Fertigung und Qualität seien bekannt gewesen, aber ignoriert worden, sagen inzwischen Mitarbeiter von Spirit AeroSystems im "Wall Street Journal". Der Zulieferer hatte den fehlerhaften Türstopfen im Rumpf der Maschine installiert und augenscheinlich in mehreren Fällen nicht richtig befestigt: Alaska und United Airlines entdeckten in mindestens neun weiteren Flugzeugen lockere Schrauben an der Abdeckung. Boeing ist dieser Mangel nicht aufgefallen.

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Quelle: ntv.de

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