Mängel deuten auf Flottenproblem Kann Boeing noch sichere Flugzeuge ausliefern?


Auch diese Tür einer Boeing 737 Max 9 von Alaska Airlines wartet auf eine Inspektion.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Die Hinweise verdichten sich: Der gravierende Mangel an der Boeing 737 MAX von Alaska Airlines ist kein Einzelfall. Luftfahrtexperte Gerhard Wissel vermutet ein strukturelles Problem bei Produktion und Qualitätssicherung. Reihenweise Stornierungen muss der US-Flugzeugbauer trotzdem nicht fürchten.
Seitdem vor fünf Jahren zwei 737-Max-Jets von Boeing abgestürzt sind und 346 Menschen starben, kommt der US-Flugzeugbauer nicht mehr aus der Krise. Der Zwischenfall aus der vergangenen Woche beschädigt den bereits ramponierten Ruf zusätzlich.
Nachdem bei einem Jet von Alaska Airlines in der vergangenen Woche mitten im Flug ein Rumpfteil herausgebrochen war, ist sich Luftfahrtexperte Gerhard Wissel sicher: "Dass die Passagiere mit einem Schrecken davongekommen sind, ist pures Glück gewesen", sagt er im Gespräch mit ntv.de. Das Flugzeug sei gerade im Steigflug gewesen, der Luftdruck dementsprechend noch nicht besonders hoch, der besagte Platz frei und die Passagiere angeschnallt. "Eine Viertelstunde später, wenn sich die Passagiere bereits abgeschnallt und die Kabinencrew mit dem Service begonnen hätte, wäre das alles wesentlich dramatischer ausgegangen."
Die US-Luftfahrtbehörde FAA ordnete als Reaktion ein vorläufiges Flugverbot für die weltweit gut 170 Maschinen verschiedener Fluggesellschaften und umgehende Inspektionen an. Eine Entscheidung, die laut Wissel zwar hundert Prozent richtig, für die Airlines aber ein Verlustgeschäft ist. Sie müssen jetzt im laufenden Betrieb reagieren. "Ausfall oder Umplanung sind mit Umsatzeinbußen verbunden, die Boeing in Rechnung gestellt werden."
Hat Boeing ihre eigene Organisation fest genug im Griff?
Bei den Inspektionen muss jetzt herausgefunden werden: Liegt der Ursprung des Problems in der Konstruktion, der Produktion oder der Wartung? Inzwischen verdichten sich Hinweise auf ein weitreichenderes Problem: Der gravierende Mangel an der Boeing 737 MAX von Alaska Airlines ist womöglich kein Einzelfall. Techniker hätten auch an weiteren Flugzeugen des betroffenen Typs lose Teile entdeckt, erklärte die Fluggesellschaft. Die zweite große Nutzerin des Flugzeugs, United Airlines, teilte ebenfalls mit, bei Kontrollen lockere Schrauben gefunden zu haben.
"Da das Problem mehrere Flugzeuge betrifft, kann ein Wartungsproblem ausgeschlossen werden", sagt Wissel. Die US-Behörde für Sicherheit in der Luftfahrt NTSB erklärte darüber hinaus, es sei unklar, ob das während des Fluges herausgebrochene Teil ordnungsgemäß angebracht war.
Rumpfteile werden normalerweise genietet. Das ist wesentlich stabiler. Andere Teile wie zum Beispiel Türen oder Notausgänge werden lediglich geschraubt. Da ein Problem bei der Wartung unwahrscheinlich ist, gilt es nun zu klären: Lässt sich der Vorfall auf ein konstruktionsbedingtes Problem zurückführen? Hätten doch andere Schrauben oder eine andere Art der Montage für das Rumpfteil verwendet werden müssen? Oder ist während der Produktion geschlampt worden? Sind die Schrauben etwa nicht fest genug gezogen worden, dass sie sich durch Vibration gelockert haben?
"Ich gehe davon aus, dass es sich bei dem Zwischenfall um ein produktionsbedingtes Problem handelt", sagt Wissel. In diesem Fall müsse sich der Konzern die Frage gefallen lassen: Hat Boeing ihre eigene Organisation fest genug im Griff, um ein wirklich flugtaugliches und hundert Prozent sicheres Flugzeug auszuliefern? Der Luftfahrtexperte geht davon aus, dass die Fluggesellschaften von allein die Wartungsintervalle für dieses spezielle Element drastisch verkürzen werden. Seiner Ansicht nach muss sich Boeing darüber hinaus aber noch eine andere Frage stellen: Muss eine grundlegende Änderung an den Flugzeugen vorgenommen werden?
Entdeckte Mängel lassen Flottenproblem vermuten
Konzernchef Dave Calhoun hat inzwischen einen Fehler des Flugzeugbauers eingeräumt und Aufklärung versprochen. "Wir werden das zuallererst so angehen, dass wir unseren Fehler eingestehen", sagte Calhoun. Außerdem versprach er laut einem veröffentlichten Auszug seiner Ansprache 100-prozentige Transparenz. Boeing werde mit den Unfallermittlern der US-Behörde NTSB zusammenarbeiten, die die Ursache des Zwischenfalls herausfinden wollten.
Einige Analysten hatten zunächst mit begrenzten Folgen für Boeing gerechnet, solange es sich um einen einzigen technischen Ausreißer handeln würde. Doch die von den Airlines entdeckten Mängel an weiteren Fliegern lassen inzwischen ein Flottenproblem vermuten.
Bei Boeing folgt das Unglück auf eine Serie von Entwicklungs- und Produktionsfehlern. Immer wieder handelt es sich um die "Max" - die jüngste Auflage des Mittelstreckenjets 737, dessen Grundkonstruktion aus den 1960er Jahren stammt. Mittelstreckenjets sind die meistgefragten Flugzeugtypen - und die "Max" für Boeing der wichtigste Umsatzbringer. Mit der Weiterentwicklung hatte der US-Konzern auf den Erfolg der Airbus-Mittelstreckenjet-Familie A320neo reagiert.
Sein europäischer Konkurrent Airbus eilt Boeing längst davon. Boeing ist seinem Rivalen seit nunmehr fünf Jahren unterlegen. Boeing lieferte im vergangenen Jahr 528 Flugzeuge aus, nach 480 im Vorjahr. Airbus übertraf nach Informationen von Insidern sein Auslieferungsziel von 720 Flugzeugen mit 735 Jets.
Weg raus aus der Vertrauenskrise
Immer wieder wurde Boeing vorgeworfen, für eine höhere Rendite an Qualität und Sicherheit gespart zu haben. "Grundsätzlich ist das schwierig nachzuweisen. Allerdings deuten die aktuellen Vorfälle und auch die Vorfälle in der Vergangenheit bei der Produktion und Qualitätssicherung auf ein strukturelles Problem bei Boeing hin", sagt Wissel.
Dass Kunden jetzt reihenweise ihre Bestellungen stornieren, ist trotzdem nicht zu erwarten. Letztendlich bleibt den Fluggesellschaften trotz aller Probleme nichts anderes übrig als weiter auf Boeing zu setzen. Gerade die großen Fluggesellschaften haben laut Wissel kein Interesse daran, sich von nur einem Hersteller abhängig machen zu lassen.
Dadurch, dass sowohl die Russen als auch die Chinesen innerhalb der nächsten 10-20 Jahre keine wirklichen serienreifen Alternativen auf den Markt bringen werden, blieben weiterhin nur Boeing und Airbus als Hersteller dieser Flugzeuge übrig. "Bei Wegfall eines Anbieters würde ein Monopol entstehen, welches zulasten von Preisen, Verfügbarkeiten und auch Innovationen beziehungsweise Flugzeugentwicklungen führen würde", sagt Wissel.
Raus aus dieser Vertrauenskrise kann es der Konzern nur schaffen, wenn eine unabhängige Prüfung in die Wege geleitet wird, die den gesamten Prozess durchleuchtet. Wissel rät dem Konzern dringend, so schnell wie möglich seine Schwachstellen offenzulegen und nachzuweisen, dass an ihnen gearbeitet wird.
Quelle: ntv.de, mit rts und dpa