Ein Land spart sich kaputt Deutschland ist wieder "der kranke Mann Europas"


Deutschland im Sanierungsstau: Seit Jahren werden Reparaturen an Straßen oder Brücken immer wieder verschoben.
(Foto: picture alliance / dpa)
Statt Sozialabgabenquote, Massenarbeitslosigkeit und Steuerlast wie in den Schröder-Jahren fesseln heute marode Infrastruktur, Investitionsstau und Wachstumsflaute die Wirtschaft. Der Schulden-Fetisch lähmt das Land, obwohl es gar nicht nötig wäre.
Wenn Oppositionspolitiker um die Jahrtausendwende herum die deutsche Regierung kritisieren wollten, benutzten sie gerne ein eingängiges Bild: Deutschland, als größte Volkswirtschaft in der Mitte des Kontinents eigentlich das ökonomische Kraftzentrum, sei aufgrund katastrophaler linker Schuldenorgien in Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit zum "kranken Mann Europas" geworden.
Den Gürtel enger schnallen, die Haushalte konsolidieren und die Märkte entfesseln: Mit dieser Vision eroberten Angela Merkel und die Union 2005 erst die Macht, regierten dann 16 Jahre lang und ernteten dabei die Früchte der Agenda 2010 von Gerhard Schröder: die längste Wachstumsphase der Bundesrepublik, unterbrochen nur von den Jahrhundertkatastrophen Finanzkrise und Covid-Pandemie, angetrieben von florierenden Exporten nach China und billigem Gas aus Russland. Das Mantra ihrer Regierungszeit verankerten sie schließlich mit der Schuldenbremse sogar in der Verfassung.
Nun feiert die Idee vom Land, das aufgrund verfehlter Politik unter seinen Möglichkeiten bleibt, Renaissance. Nur unter umgekehrtem Vorzeichen: "Ist Deutschland wieder der kranke Mann Europas?", fragt die britische "Financial Times". Doch diesmal sind nicht erdrückende Sozialabgaben, Millionen Arbeitslose und hohe Steuern die Ursache. Deutschlands "Abneigung gegen Schulden ist entweder Wahnsinn oder Heuchelei", urteilt das Blatt.
Hinter der glänzenden Bilanz bröckeln die Brücken
Dank Merkels Politik der Schwarzen Null hat Deutschland heute die niedrigste Schuldenquote aller großen Industrieländer: Mit gerade mal rund 64 Prozent seiner Wirtschaftsleistung steht Berlin in der Kreide. In Frankreich sind es gut 110 Prozent, in den USA mehr als 120 Prozent und in Japan über 250 Prozent.
Doch praktisch nützt der Schönheitspreis wenig: Denn als einzige G7-Nation schrumpfte Deutschland im vergangenen Jahr. Wäre Deutschland ein Unternehmen, hätte es auf dem Papier zwar eine erstklassige Bilanz. Doch in den Werkshallen ächzen durch jahrelange Sparpolitik die Maschinen, es herrscht Mangelverwaltung und die Umsätze kommen nicht vom Fleck.
In Schulen, Kitas, Funk- und Stromnetze, Brücken, Straßen und Schienen, Polizei, Justiz und Militär wurde während der Merkel-Jahre viel zu wenig investiert. Das rächt sich nun: Die marode öffentliche Infrastruktur hemmt das Wachstum. In seinen Kernbereichen funktioniert der Staat nicht und frustriert die Bürger. Jeder, der schon einmal auf einem Berliner Bürgeramt einen Personalausweis beantragt, auf der Autobahn zu telefonieren versucht oder kürzlich eine Fahrt mit der Deutschen Bahn unternommen hat, weiß, was gemeint ist.
Die kurzfristigen Symptome der deutschen Krankheit - der Energiepreisschock durch Russlands Überfall auf die Ukraine, Inflation und hohe Zinsen - sind bereits wieder abgeflaut oder im Begriff sich zu verflüchtigen. Langfristige Trends sind das Problem, vor allem Deutschlands Vernarrtheit in astronomische Sparquoten und Handelsüberschüsse. "Viele deutsche Ökonomen sehen darin einen Beweis für Deutschlands internationale Wettbewerbsfähigkeit und bestehen darauf, dass alle anderen, vor allem in der Eurozone, Deutschland nacheifern sollen", schreibt die "Financial Times". "Das ist Blödsinn".
Der Schulden-Fetisch fesselt das Land
Es ist längst nicht mehr nur das Lamento von Gewerkschaften und linken Ökonomen. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF), in anderen Ländern ein Verfechter von Rentenkürzungen, Sparprogrammen und schlankem Staat, schreibt inzwischen: Deutschlands größte Baustellen seien "Alterung, Unterinvestment und zu viel Bürokratie". Die öffentlichen Investitionen stagnierten seit den 90er-Jahren auf einem Niveau, "das gerade mal den Wertverlust ausgleicht". Unter den großen Industrieländern investiert laut IWF nur Spanien noch weniger in seine öffentliche Infrastruktur.
Wie sehr die quasi-religiöse Schulden-Obsession das Land fesselt, ist an dem Haushalt abzulesen, der gerade in dieser Woche verabschiedet wurde. Um das durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im vergangenen Jahr gerissene 60-Milliarden-Loch zu stopfen, schacherten SPD, Grüne und FDP monatelang um Kürzungen und Umschichtungen. Und auch wenn die Investitionen im Budget nun auf Rekordniveau liegen, ändert das am Befund nichts: Deutschland gibt zu wenig Geld aus, um seine Substanz zu erhalten und den Grundstein für neues Wachstum zu legen.
Der Verfall lässt sich - wenn überhaupt - nur noch mit außerplanmäßigen Geldspritzen aufhalten. Allerdings muss der Bund dafür wie bei der Bahn das Tafelsilber verkaufen oder wie bei der Bundeswehr einen Schattenhaushalt auflegen. Dabei gäbe es eine einfache Lösung: "Der offensichtliche Weg" wäre, "das ultra-niedrige Niveau öffentlicher Investitionen anzuheben, indem die deutsche Regierung, eine der kreditwürdigsten der Welt, sich dort Geld leiht, wo ihr am meisten vertraut wird", schreibt die FT. "Es macht keinen Sinn für ein Land mit solch enormen Sparüberschüssen im Privatsektor, sie nicht zu Hause zu verwenden."
Es wäre keine Revolution nötig, um den Finanz-Masochismus zu überwinden. Auch der IWF plädiert dafür, die Schuldenbremse nur um ein Prozent der Wirtschaftsleistung zu lockern, um mehr Spielraum für sinnvolle Investitionen zu gewinnen, die das Wachstum anregen. Das wäre kein Freifahrtschein für grenzenloses Schuldenmachen. Nur ein kluges Medikamentieren, die den kranken Mann Europas erneut heilen würde.
Quelle: ntv.de