Ein Denkzettel für Brüssel? Kleine britische Firmen wittern große Freiheit
16.06.2016, 18:11 Uhr
Viele kleine Unternehmen in Großbritannien wollen sich abschotten.
(Foto: REUTERS)
Der britische Mittelstand ist in der Frage des EU-Referendums zutiefst gespalten. Gerade kleinere Unternehmen sind der Bürokratie aus Brüssel überdrüssig. Aber ohne die EU erwarten sie neue Herausforderungen.
Das kleine Familien-Unternehmen David Nieper aus der Grafschaft Derbyshire, das Damenmode per Katalog verkauft, macht es symbolisch an einer Trittleiter in der Fabrik fest. Jeden Monat hole jemand aus Gesundheits- und Sicherheitsgründen die Leiter raus und zähle die Bretter, berichtet Christopher Nieper dem "Handelsblatt". Nieper ist Chef der kleinen Nähfabrik gut 200 Kilometer nordwestlich von London. Danach werde ein Formular ausgefüllt. Völlig überflüssig, findet er. Er ist bekennender EU-Gegner.
5,4 Millionen Klein- und Mittelstandsbetriebe gibt es auf der Insel. Sie machen 99 Prozent aller Unternehmen aus. Anders als bei den großen britischen Unternehmen, von denen laut Umfragen rund 80 gegen einen Brexit sind, halten sich in diesem Lager die Brexit-Gegner und -Befürworter jedoch in etwa die Waage.
Ganze 40 Prozent sind laut einer Umfrage aus dem Februar unentschieden. Wenn Brexit-Befürworter und -Gegner noch auf den letzten Metern vorm Referendum auf Stimmenfang gehen wollen, hier bei den kleineren britischen Unternehmern könnte es sich lohnen. Sie könnten am 23. Juni das Zünglein an der Waage werden.
Leinen los oder nicht?
Die meisten Befürworter eines Brexits hadern so wie der Chef der kleinen Nähfabrik mit den Regeln und dem Aufwand für die Bürokratie. Sie sind der Schikane aus Brüssel überdrüssig, die Bürokratie bringt ihnen nichts, sagen sie. 90 Prozent aller Unternehmen im Königreich exportieren nicht in die Europäische Union (EU). Gerade die kleineren unter ihnen, die nichts ausführen wollen oder können, argumentieren häufig, sie kämen gegen die große Konkurrenz aus der EU nicht an.
Doch es gibt auch andere kleine und mittlere Unternehmen, die fürchten, durch den EU-Austritt eine wichtige Geschäftsgrundlage zu verlieren. Dazu gehören zum Beispiel die Zulieferer für die europäische Autoindustrie. Sie blicken einem Brexit mit Sorge entgegen. Ihre Geschäftsbeziehungen zum Festland werden wahrscheinlich nicht leichter.
Entscheidend für die Positionierung "Leave" oder "Remain" ist, wie sehr das Unternehmen mit dem Kontinent vernetzt ist. Der Chef der britisch-deutschen Parlamentariergruppe Paul Farrelly berichtet im Gespräch mit n-tv.de von seinem eigenen Wahlkreis Newcastle-under-Lyme in der englischen Grafschaft Staffordshire, rund 42 km nördlich von Stafford.
Die ansässige traditionelle Keramikindustrie sei gegen einen Brexit, sagt Farrelly: "Sie ziehen es vor, ein einheitliches und nicht 28 verschiedene Regelwerke zu haben." Der größte Arbeitgeber in seinem Wahlkreis, ein Unternehmen für Onlinewetten, träume von solchen Bedingungen. Glücksspiel sei nicht Teil des Binnenmarktes, deshalb schlage sich das Unternehmen schon heute mit 28 verschiedenen Gesetzen der EU-Staaten umher, hinzu kämen noch die regionalen Regeln. "Das nervt, aber Brüssel verhindert damit einen noch größeren Papierkrieg", sagt Farrelly.
Neue Regelwerke
Verlässt Großbritannien den einheitlichen Handelsraum müssen wahrscheinlich wieder unterschiedliche Produktvarianten für die beiden separaten Wirtschaftsräume hergestellt werden. Statt der Regularien aus Brüssel gibt es dann andere Zulassungs- und Prüfungsverfahren, die mit neuen Kosten verbunden sind.
Gerade kleinere Unternehmen müssen bei einem EU-Austritt auch die Abwertung des Pfunds befürchten. Die Bank of England warnte bereits davor. Ein schwächeres Pfund würde für die Unternehmen nicht nur teurere Importartikel bedeuten, sondern auch den Zugang zu Krediten schwieriger machen. Gerade für Kleinbetriebe dürften sich die finanziellen Bedingungen verschärfen.
Viel hängt im Falle eines EU-Austritts davon ab, wie die Handelsbeziehungen nach einem Brexit aussehen werden. Wettbewerbsbedingungen, Handelsvorgaben, Niederlassungsrechte – alles muss neu geregelt werden. Der exportwillige Mittelstand auf beiden Seiten des Ärmelkanals wird möglicherweise höheren Zöllen unterliegen.
Kritisch könnte sein, dass gerade kleine Unternehmen nicht die gleichen Mittel haben wie große, um sich an dramatische Änderungen anzupassen. Manches Unternehmen könnte sich insofern noch nach den Zeiten zurücksehnen, einmal im Monat einfach nur Stufen einer Trittleiter gezählt zu haben.
Quelle: ntv.de