Routinetest Prostatakrebs Lebensrettend oder nutzlos?
24.03.2009, 12:00 UhrJedes Jahr erhalten mehr als 58.000 Männer in Deutschland die Diagnose Prostatakrebs, über 11.000 sterben an der bösartigen Wucherung. Kann ein regelmäßiger Prostatakrebs-Bluttest Leben retten? Darüber streiten die Experten seit langem.
Das Prostatakarzinom ist das häufigste Krebsleiden bei Männern. Ab 45 wird ihnen daher eine regelmäßige Vorsorgeuntersuchung empfohlen. Ein Arzt tastet dabei die Prostata nach Geschwulsten ab. Das Problem dabei: Die Tastuntersuchung ist insgesamt wenig aussagekräftig, wie das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg beklagt.
"Mit der Tastuntersuchung können – wenn überhaupt – nur oberflächliche Tumoren erkannt werden, die schon eine gewisse Größe erreicht haben, was oft bedeutet, dass die Erkrankung sich nicht mehr in einem Frühstadium befindet", heißt es beim Krebsinformationsdienst des Zentrums. "Außerdem ist die Untersuchung stark von der Erfahrung und den Fähigkeiten des Untersuchers abhängig. Die Treffsicherheit der Untersuchung ist insgesamt niedrig."
Einfache Blutprobe
Seit einigen Jahren wissen Mediziner jedoch, dass Prostatakarzinome die Konzentration einer bestimmten Eiweißverbindung im Blut erhöhen. Der Spiegel dieses prostataspezifischen Antigens (PSA) lässt sich mit einer einfachen Blutprobe messen. Wäre es daher nicht sinnvoll, bei allen älteren Männer regelmäßig den PSA-Wert im Blut zu bestimmen?
Bislang gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg für einen Nutzen eines solchen Screenings. Zwei große, langjährige Studien in Europa und den USA sollten diese Frage beantworten. Sie kommen jedoch zu uneinheitlichen Ergebnissen, wie nun im "New England Journal of Medicine" nachzulesen ist. Für die US-Untersuchung (Bd. 360, S. 1310) waren knapp 77.000 Männer zwischen 55 und 74 Jahren in zwei Gruppen eingeteilt worden. Der einen wurde ein jährliches PSA-Screening zusätzlich zur Tastuntersuchung angeboten, 85 Prozent der Probanden machten davon Gebrauch. Die andere diente als Kontrollgruppe zum Vergleich mit der üblichen medizinischen Versorgung in den USA. Dort sind PSA-Tests allerdings bereits so verbrei tet, dass auch bei rund der Hälfte (52 Prozent) dieser Probanden der PSAWert gemessen wurde. Nach sieben Jahren Beobachtungszeit gab es keinen signifikanten Unterschied der Prostatakrebs-Todesraten in beiden Gruppen, wie die Studienautoren (Prostate, Lung, Colorectal, and Ovarian Screening Trial project team, PLCO) konstatieren.
Die europäische Untersuchung (European Randomized Study of Screening for Prostate Cancer, ERSPC) ist wesentlich größer: Sie wertet die Daten von rund 160.000 Männern zwischen 55 und 69 Jahren aus sieben Ländern aus, deren Krankengeschichte im Mittel neun Jahre lang protokolliert wurde. Etwa der Hälfte von ihnen wurde ein regelmäßiger PSA-Bluttest angeboten. In dieser Screening-Gruppe machten 82 Prozent der Probanden mindestens einmal Gebrauch von dem Testangebot.
Ein Fünftel weniger Todesfälle
Die Mediziner registrierten in der gesamten Gruppe ein Fünftel weniger Prostatakrebs-Todesfälle als in der Kontrollgruppe. "Prostatakrebs-Screening kann Todesfälle um 20 Prozent reduzieren", jubelte prompt die Europäische Urologengesellschaft (EAU). Die weltgrößte Untersuchung zum Thema liefere nun "erstmals robuste, unabhängig geprüfte Belege" dafür.
"Die Studie zeigt, dass PSA-Screening eine Reduzierung der Prostatakrebs- Sterblichkeit von 20 Prozent bringt", zitiert die Urologengesellschaft den Studienkoordinator Fritz Schröder vom niederländischen Erasmus- Medizinzentrum in Rotterdam. Seine Kollegen und er schränken allerdings ein, dass die PSA-Tests in der Studie zu sehr vielen Fehl- und Überdiagnosen geführt haben. So unterzogen sich mehr als drei Viertel (75,9 Prozent) der Männer, bei denen ein erhöhter PSA-Wert gemessen wurde, überflüssigerweise einer Gewebeuntersuchung. Bei dieser Biopsie wird in der Regel an 32 Stellen in die Prostata gestochen, um Gewebe für eine Untersuchung zu gewinnen.
Zudem werden bei einem Screening unvermeidlich auch zahlreiche wenig aggressive Karzinome entdeckt, die zu Lebzeiten niemals ein Problem geworden wären. Knapp jedes dritte Prostatakarzinom (rund 30 Prozent) ist nach Auskunft der Europäischen Urologengesellschaft ein solcher indolenter Tumor. Wie sich eine Geschwulst entwickelt, ist aber nicht ohne weiteres vorherzusehen. Einmal entdeckt, werden in der Regel alle Karzinome behandelt, obwohl es in vielen Fällen gar nicht nötig wäre.
So sei die Diagnose Prostatakrebs in der Screening-Gruppe mit 820 Fällen pro 10.000 Probanden fast doppelt so häufig gewesen wie in der Kontrollgruppe (480 pro 10.000 Männern), kommentiert der US-Mediziner Michael Barry von der Harvard-Universität in Boston im "New England Journal of Medicine". In der Folge sei bei 277 von 10.000 Männern in der Screening-Gruppe die Prostata vollständig entfernt worden, in der Kontrollgruppe bei 100, schätzt Barry. Eine Strahlentherapie mit oder ohne zusätzliche Hormongabe hätten etwa 220 von 10.000 Männern der Screening-Gruppe bekommen, in der Kontrollgruppe nur 123.
"Auf einen, dem Sie zusätzlich das Leben retten, kommen 39, die sie überflüssig behandeln", argumentiert der Hamburger Medizinphysiker Hans- Hermann Dubben. Der Wissenschaftler, der sich mit der kritischen statistischen Analyse medizinischer Studien einen Namen gemacht hat, legt im britischen Journal "Lancet Oncology" (Bd. 10, S. 294) weitere prinzipielle Schwachstellen von Untersuchungen dar, die den Nutzen eines Krebs-Screenings erhellen sollen.
Große statistische Unsicherheit
Da Prostatakrebs insgesamt gesehen eine seltene Todesart ist, geht es trotz der großen Zahl von Studienteilnehmern um den Vergleich sehr kleiner Fallzahlen. So wurde in der Screening-Gruppe (72.952 Probanden) der europäischen Studie bei 214 Männern die Todesursache Prostatakrebs angegeben, in der etwas größeren Kontrollgruppe (89.435 Probanden) bei 326 – eine Differenz von 112 Fällen unter 162.000 Probanden.
Das resultiert in einer entsprechend großen statistischen Unsicherheit. So registrierten die Mediziner zwar eine 20 Prozent niedrigere Prostatakrebs-Sterberate in der Screening-Gruppe. Aufgrund der statistischen Schwankungsbreite lässt sich jedoch nur sagen, dass der tatsächliche Unterschied irgendwo zwischen 2 und 35 Prozent liegen könnte, wie die Studienautoren angeben.
Dazu kommen echte Fehlerquellen. So haben schon wenige Fehler bei der Bestimmung der Todesursache große Auswirkungen. Selbst wenn nur einer von hundert Totenscheinen falsch liegt, muss die Studie 35 Prozent mehr Probanden einschließen, um dieselbe Aussagekraft zu haben, wie Dubben darlegt. Bei drei Fehlern unter 100 Totenscheinen verdoppele sich die benötigte Zahl der Probanden bereits. Totenscheine seien in der Regel zu weniger als 95 Prozent korrekt, schreibt der Hamburger Wissenschaftler.
Zudem folgten nicht alle Probanden den Empfehlungen für die jeweilige Studiengruppe. So nahmen sowohl in der europäischen als auch in der US-Studie nicht alle Teilnehmer der Screening-Gruppen das Angebot der PSA-Tests an. Die sogenannte Compliance lag bei 82 beziehungsweise 85 Prozent. Eine auf fünf Jahre angelegte Studie mit 200.000 Teilnehmern, von denen nur 80 Prozent der Empfehlung folgen, müsse auf mehr als eine halbe Million (556.000) Probanden vergrößert werden, um dieselbe Aussagekraft zu haben wie eine Untersuchung, bei der sich alle Teilnehmer an die Empfehlungen halten, rechnet Dubben vor. "Beide Arbeiten sind viel zu klein für ihre Fragestellung, und zwar bei weitem", kritisiert er. Dass die Studien zu uneinheitlichen Ergebnissen kommen, überrascht ihn nicht: "Ich fühle mich durch diese Arbeiten bestätigt."
Darüber hinaus sieht der Medizinphysiker ein weiteres gravierendes Problem: Übliche Screening-Studien seien nur darauf ausgelegt, einen möglichen Nutzen bezüglich einer bestimmten Krankheit zu erkennen – also etwa eine Senkung der Prostatasterblichkeit durch das PSA-Screening. Aus statistischen Gründen sei es dabei nicht möglich, unbekannte negative Effekte zu bemerken, weil diese in der großen Zahl der gesamten Todesfälle untergingen.
Hypothetische Studie
Dubben betrachtet dazu eine hypothetische Studie mit je 100.000 Probanden in einer Screening- und einer Kontrollgruppe, von der während der mehrjährigen Untersuchung jeweils 10.000 sterben. Das Prostatakrebs-Sterberisiko liegt für Männer in den Industrieländern bei drei Prozent. Unter 10.000 Toten der Kontrollgruppe sind dann 300 Prostatakrebs-Patienten. Angenommen, eine Screening-Methode reduziert das Prostatakrebs- Sterberisiko um 25 Prozent, sterben in der Screening-Gruppe 25 Prozent, also 75 Männer, weniger an Prostatakrebs.
Sollte das Screening jedoch eine gravierende, unerkannte Gefahr bergen, die für jeden geretteten Prostatakrebspatienten zu zwei Todesfällen mit ganz anderen Ursachen führt, geht diese wichtige Information in der Gesamtzahl der Todesfälle unter. In der Screening-Gruppe stürben dann zwar nur 225 Männer an Prostatakrebs, aber 150 weitere durch den Test. Statt 10.000 Toten wie in der Kontrollgruppe gibt es dann 10.075 Tote. Dieser winzige Unterschied geht vollständig im statistischen Rauschen unter.
So weit hergeholt ist das Beispiel nicht: So werde die Prostatabiopsie in der Regel durch den Darm vorgenommen, wo zahlreiche Bakterien leben, erläutert Dubben. Das berge etwa ein nicht zu vernachlässigendes Infektionsrisiko an der Prostata. Da es beim Screening immer um eine große Zahl von Behandlungen geht, können sich auch sehr kleine Risiken negativ auswirken. Auch Stress durch die Diagnose sowie eine mögliche Strahlentherapie sind nicht harmlos. Damit sie auch mögliche negative Effekte erkennen, müssten Studien stets die Gesamtzahl aller Todesfälle betrachten, fordert Dubben. Um darin die winzigen Effekte eines Screenings zu erkennen, müssten die Studien jedoch unrealistisch groß sein: So müssten etwa 3,5 Millionen Menschen über zehn Jahre beobachtet werden.
Eine Diskussion der Kosten eines Screenings hat Dubben bewusst ausgespart. Angesichts der gravierenden methodischen Schwierigkeiten kommt er zu dem Schluss, dass Nutzen oder Schaden eines Prostatakrebs-Screenings nicht im Rahmen realistischer Studien zu ermitteln sind, und empfiehlt "Kranke zu behandeln, nicht Gesunde".
Auch Wissenschaftler des Deutschen Krebsforschungszentrums gehören zu den Kritikern eines Prostatakrebs-Screenings. Zur Frage, unter welchen Umständen für den einzelnen Patienten ein PSA-Test sinnvoll sein kann, hat der Krebsinformationsdienst des Zentrums gemeinsam mit der Universität Bremen und der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) unter www.psa-entscheidungshilfe.de ein Beratungsangebot im Internet bereitgestellt, das neutral durch die verschiedenen Vor- und Nachteile führen und die eigene Haltung deutlicher machen soll.
Till Mundzeck, dpa
Quelle: ntv.de