70 Jahre Seat Der Aufstieg durch die Rebellion
15.04.2020, 15:58 Uhr
Der Seat 600 war für die meisten Spanier fast zwei Jahrzehnte lang das Symbol für Mobilität und Freiheit.
(Foto: Seat)
Vor 70 Jahren als Fiat-Lizenzhersteller gegründet, war Seat nur ein Anhängsel der Italiener. Es ist dem zivilen Ungehorsam der kreativen Konstrukteure zu verdanken, dass die spanische Marke über die Jahrzehnte zu einem der größten europäischen Autobauer aufgestiegen ist.
Freiheitsliebende Rebellen sind fester Bestandteil der spanischen Gesellschaft, wie die katalanischen Separatisten demonstrieren. Es ist ein Geist, der auch die Geschichte von Seat prägt. Jenes im Mai 1950 in Madrid gegründeten Massenherstellers, der aber sein Stammwerk in der katalanischen Metropole Barcelona einrichtete. Mit Fiat-Lizenzprodukten machte Seat die iberische Halbinsel mobil – ließ es dabei aber nie an kreativen Eigenentwicklungen fehlen, mit denen die selbstbewussten Katalanen ihren Unabhängigkeitsdrang zum Ausdruck brachten.
So waren es nicht nur italienische Lizenz-Typen vom winzigen Fiat 600 bis zum exklusiven Lancia, sondern vor allem selbst konstruierte, verlängerte Viertürer wie Seat 600 D und 800 Sedan oder temperamentvolle Sportler à la Seat 1430 sowie Bocanegra, mit denen die spanischen Konstrukteure ihre Marke unter die Top Ten der größten europäischen Autobauer katapultierten. Nicht nur in Spanien - auch in anderen europäischen Ländern wie Finnland wurden Seat-Modelle die meistverkauften Volksfahrzeuge.
Allerdings mit Fiat-Signet, denn so hielten die Turiner ihre iberische Wahlverwandtschaft unter Kontrolle. 1980 war damit Schluss, Fiat vollzog die Trennung und überließ die kapitalschwachen Spanier dem Untergang. Seats Retter in der Not wurde Volkswagen: Unter dem Dach der Wolfsburger zählte Seat mit Modellen wie Ibiza, Arosa oder Cordoba bald zu den Fixsternen am Kleinwagenhimmel.
Immer mit spanischer Raffinesse

Der Seat 600 D wurde 1970 unter der Bezeichnung Fiat 770 S ins Programm von Fiat Deutschland genommen.
(Foto: Seat)
Dass Seat heute sein 70. Unternehmens-Jubiläum und den 50. Jahrestag des Deutschlandstarts (1970 mit dem Typ 600) als hierzulande zweitgrößte Importmarke (hinter Skoda) und europäischer Big Player feiert, hat Fiat wahrscheinlich nie für möglich gehalten und VW im Jahr 1986 bei Übernahme des Pleitekandidaten wahrscheinlich nur vage gehofft. Andererseits hat es der Autobauer aus Barcelona von Beginn an verstanden, die Vorzüge der Volumenmodelle von Fiat und VW mit spanischer Raffinesse und katalanischer Akkuratesse in der Fertigungsqualität zu vereinen.
Die globale Größe der tschechischen Konzernschwester Skoda hat Seat zwar nie erreicht, dafür jedoch das VW-Produktportfolio vorangebracht durch revolutionäre Praktiker wie den Seat Inca als Basis für den Kleintransporter Caddy, den charmanten Arosa als Blaupause für den ersten VW-Mini-Flitzer Lupo oder die Cupra-Typen als Alfa-Romeo-Herausforderer, seit 2018 sogar unter eigenständiger Markenführung.
Es war wie beim katalanischen Nationalgericht Paella: Die wohldosierte Mischung aus (automobiler) Alltagskost und überraschenden Spezialitäten führte Seat zum Erfolg. Wobei die sättigende Alltagskost am Anfang stand, damals am 9. Mai 1950, als die "Sociedad Espanola de Automóviles de Turismo S.A", kurz Seat, gegründet wurde. Ein symbolträchtiges Datum - wurde doch am selben Tag der Gedanke der Europäischen Union aus der Taufe gehoben.
Seat sollte Spanien mobil machen
Allerdings ging es den Seat-Gründern, also der staatlichen INI (Institución Nacional de Industria) unter dem spanischen Staatschef Franco, sowie sechs Banken und dem italienischen Fiat-Konzern, nicht um Exporte in europäische Nachbarländer, sondern um die automobile Unabhängigkeit Spaniens, das vorläufig wirtschaftlich isoliert war. Seat sollte zuerst die Behörden und dann die Bevölkerung motorisieren, und dafür rollten ab 1953 im Werk Zona Franca bei Barcelona modische Pontonlimousinen des Typs Seat 1400 vom Band.

Der Seat 1430 leitete ab 1969 die emotionale Emanzipation von der italienischen Übermutter Fiat ein.
(Foto: Seat)
Bis auf die Markenlogos diente der Fiat 1400 als Vorlage, aber die Bauteile des Seat wurden von Beginn an fast ausschließlich in Spanien gefertigt. So kostete der – allerdings subventionierte – Seat 1400 nach heutigem Kurs nur 705 Euro, während die Kopiervorlage von Fiat gut fünfmal so teuer war. Knapp 100.000 Einheiten dieses ersten Seat wurden bis 1964 ausgeliefert, mehr gaben die Produktionskapazitäten nicht her. Darunter waren bereits eigenständig entwickelte Kombis und Lieferwagen, denn Seat sollte nach dem Willen der Katalanen mehr sein als ein Copyshop.
Und das bewies Seat auch mit dem zweiten Modell, dem Seat 600. Abgeleitet vom gleichnamigen Fiat-Kleinwagen war der Seat 600 für die meisten Spanier fast zwei Jahrzehnte lang das Symbol für Mobilität und Freiheit – auch von der Lizenzgeberin Fiat. So motorisierte die Eigenschöpfung Seat 600 Furgoneta Comercial Handwerk und Händler, während Seat 600 D Sedan und Seat 800 als repräsentative viertürige Varianten des Winzlings reüssierten.
Die emotionale Emanzipation

Ein endgültiges Signal in Richtung Sport und spanischer Emoción setzte 1975 die Eigenentwicklung Seat 1200/1430 Sport.
(Foto: Seat)
Dagegen leitete der Seat 1430 ab 1969 die emotionale Emanzipation von der italienischen Übermutter Fiat ein. Die sportlichen Doppelscheinwerfer-Limousinen standen für adrenalinhaltige Fahrfreude ähnlich wie Alfa Giulia oder die BMW-Typen der neuen Klasse – und als betont sportive Lifestyle-Kombis entdeckten die Seat sogar Neuland in der Mittelklasse. Ein endgültiges Signal in Richtung Sport und spanischer Emoción setzte 1975 die Eigenentwicklung Seat 1200/1430 Sport.
Die Sportcoupés mit mattschwarzer "Bocanegra"-Kunststoffnase dienten europaweit als Markenbotschafter für Seat, so auch 1977 in Deutschland. Bis dahin mussten sich die meisten für den Export bestimmten Seat mit einem Fiat-Zeichen tarnen wie der Seat 600 D, der vor 40 Jahren unter der Bezeichnung Fiat 770 S ins Programm von Fiat Deutschland aufgenommen wurde. Ab 1975 zeigte Seat international Flagge, ein Meilenstein, an den im 21. Jahrhundert Bocanegra-Versionen des Seat Ibiza erinnerten.
In den 1970ern übernahm Seat das Werk des Konkurrenten Authi, und in Europa avancierten die Spanier mit fast einer Milliarde Dollar Umsatz zum achtgrößten Automobilhersteller. Dann passierte die Katastrophe: 1980 entschloss sich der Fiat-Konzern, Seats Kapitalerhöhungspläne zur Finanzierung einer Restrukturierung nicht mitzutragen. Seat stürzte in eine Krise, war man doch gezwungen, in kürzester Zeit eine komplett eigenständige Produktpalette aufzubauen. Waren es zuerst Derivate von Fiat Modellen wie der Ronda als spanischer Ritmo, mit denen sich Seat freischwamm, kam 1982 frisches Kapital von VW und seit 1990 hält Volkswagen hundert Prozent des Seat-Firmenkapitals.
Den eigenen Weg gefunden
Da stand Seat schon sechs Jahre lang auf eigenen Rädern, denn der Ibiza erhielt einen Motor von Porsche, das Design von Giorgio Giugario und eine Sicherheitsfahrgastzelle von Karmann. 1991 folgt dann der Toledo, die erste Modellreihe, die Seat unter der Ägide von Volkswagen entwickelte. Weiter ging es mit Baureihen wie Leon oder Alhambra, die den Golf oder VW Sharan ins Spanische übersetzten, aber auch iberische Besonderheiten waren dabei: Etwa der Seat Cordoba als Stufenheck-Derivat des VW Polo und mutiger Kleinwagen-Kombi, der Seat Altea als betont sportiver Kompaktvan oder eben die Cupra-Typen mit südeuropäischem Feuer.
Im VW-Portfolio des neuen Jahrtausends wechselte die Markenausrichtung von Seat lange unsicher zwischen Alfa-Rivale und "Aldi"-Skoda. Zum 70. Jubiläum scheint Seat endlich seinen Platz gefunden zu haben - davon kündet nicht nur die nun eigenständige Cupra-Division, sondern auch der vollelektrische Seat el-Born, das dynamische Schwestermodell zum VW ID3.
Quelle: ntv.de, Wolfram Nickel, sp-x