
Endsechziger mit Vollbart, Intellektuellenbrille und Tweed-Jackett, in Venezuela geboren und im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern in die Schweiz zurückgekehrt: Carlos Gross.
(Foto: Aldier)
Pommes Allumettes aus Bintje, die Küche eine Bühne, denn der Maestro ist ein Lebenskünstler, war Statist in "Apokalypse Now" und ist gern Regisseur seines eigenen Stücks, das da heißt: Leben! Unserem Chefmoderator läuft auf jeden Fall das Wasser im Mund zusammen, diese Woche schwelgt der Herr Teuner in der Schweiz.
Carlos Gross ist Herz, Seele und Hirn von allem. Ihm gehört das wunderschöne, 1865 erbaute Engadinerhaus mit seiner imposanten Holzfront im Herzen von Sent. Carlos ist Lebenskünstler und Unternehmer, er ist Schöpfer des Gesamtkunstwerks aus Museum, Hotel und Restaurant. Er ist der Regisseur hinter dieser Bühne, die er in charmanter Bescheidenheit und auf Rätoromanisch Pensiun nennt.
Hauptdarsteller sind seine Köche, die jeden Tag Dutzende stimmiger und guter Gerichte über den Pass schicken. Und ein toter Künstler: Alberto Giacometti, der Schweizer Maler und Bildhauer, dessen Bronzeskulpturen von dünnen, in die Länge gezogenen, ins Nirgendwo schreitenden Menschen ihn weltberühmt gemacht haben. Giacometti ist überall. Seine Werke blicken einem über die Schulter, wenn man isst, sie begleiten einen in den Schlaf, wenn man eines der großzügigen Zimmer in der Pension gebucht hat, und sie springen einen an, wenn man das Giacometti-Museum in den Kellergewölben besucht.
Carlos ist ein Endsechziger mit Vollbart, Intellektuellenbrille und Tweed-Jackett, der in Venezuela geboren und im Alter von neun Jahren mit seinen Eltern in die Schweiz zurückgekehrt ist. Ein Gentleman, dem weltgewandte Gelassenheit aus allen Poren dringt. In der Bibliothek mit ihren Designersesseln aus Kalbsleder erzählt er mir, wie alles anfing. "Ich habe mich immer schon für Kunst interessiert. Zunächst für van Gogh. Irgendwann bin ich auf Giacometti gestoßen, las seine Biografie und fing Feuer."
Der junge Carlos lernt das Hotelfach bei Fredy Girardet in Crissier und im "Beau Rivage" in Lausanne, geht ein paar Jahre auf Wanderschaft in Asien, wo er als Statist in "Apocalypse Now" mitspielt und stellt später über viele Jahre hinweg im Piemont im großen Stil Antipasti her. Dann übernimmt er das "Aldier". In den 80ern beginnt Carlos, Werke von Giacometti zu kaufen: "Irgendwann fokussierte ich mich auf sein grafisches Werk." Endergebnis 2022: an die 200 Lithografien und Radierungen. Carlos spricht von der "mit aller Wahrscheinlichkeit komplexesten, permanenten Ausstellung dieser Art überhaupt". Das mögen Kunsthistoriker beurteilen.
Was gibt' zu essen heute?
Sie sind ungeduldig geworden, liebe Leser. Wann erzählt er uns endlich etwas übers Essen? Jetzt. Am erlebten Genuss hat die Stimmung, die einen hier erfasst, jedenfalls einen großen Anteil. Man nennt es "Gesamtkunstwerk". Ein Kunstwerk en miniature ist der piemontesische Kaninchensalat mit Taggiasca-Oliven, Kapern und Zitronensaft. Die Köche haben die sanft mit Aromaten geschmorten Kaninchenschultern vom Knochen gezupft, mit Salbei, Knoblauch und Olivenöl eingeweckt und einige Tage ziehen lassen. Dass Kaninchen so gut schmecken kann! Die herben Kapern und die fleischigen Oliven runden es zu einer außerordentlich guten Vorspeise ab.
Das gilt auch für die geräucherte Forelle auf Linsensalat mit Meerrettich-Creme-Fraîche. Der Meerrettich frisch gerieben, die Creme von glücklichen Engadiner Bergkühen. Die Beluga-Linsen perfekt gegart, mit milder Vinaigrette. Und der Fisch! Er kommt von der Manufaktur Dyhrberg aus Balsthal und wurde über Buchenholz geräuchert. So fest im Mund. Kein Hauch des moosigen Aromas, das Forellen haben, wenn zu viele in einem zu kleinen Teich gehalten und mit Pellets gefüttert werden. Ob Kaninchen, Forelle, Orangen-Carpaccio mit Pinienkernen und Sardellen oder handgehackter Tatar vom Engadiner Kalb - der rote Faden ist: Wenig Zutaten bester Qualität, mit Fantasie und Sinn für kulturell gewachsene Geschmackskombinationen zusammengestellt und handwerklich sauber ausgeführt.
Apropos Zutaten: Fast alle Zutaten sind aus den Alpen, der größte Teil aus der unmittelbaren Umgebung. Die meisten davon wiederum sind Produkte, die von Bauern auf althergebrachte Weise und komplett unindustriell gemacht wurden. "Unser Fleisch kommt nur von hier oben", sagt Carlos. "Nichts ist aus einem Mastbetrieb." Das "Aldier" bezieht Lamm, Kalb und Rind von zwei Metzgereien, Zanetti in Sent und Hatecke im Talort Scuol. Wer eine Hatecke-Metzgerei betritt, sich die Ware anschaut und mit dem Fleischer spricht, weiß, warum Carlos diese Wahl getroffen hat. Noch deutlicher wird die Philosophie bei Wildpilzen: "Wenn wir Steinpilze auf der Karte haben, sind die immer selbst gesammelt; die ganze Belegschaft geht in der Saison in die Pilze."
Küchen-Kommune
Als ich Carlos nach seinem Küchenchef frage, kriege ich eine überraschende Antwort: "Es gibt bei uns keinen Namen des Kochs, weil ich seit Jahren keinen Chefkoch mehr einstelle." In der Küche des "Aldier" arbeiten drei junge und offensichtlich sehr talentierte Köche, die den Regieanweisungen des Chefs folgen. "Ich schreibe ihnen die Rezepte."
Wie zum Beispiel das für Veltliner Polenta mit cremig-aromatischem Ragout aus besagten Pilzen. "Nebst Mais hat sie einen Anteil Buchweizen, was ihr diesen schönen nussigen Geschmack gibt. Wir montieren sie klassisch mit Parmesan und Butter." Die Polenta begleitet auch einen konfierten und knusprig gebackenen Entenschenkel. Umspielt werden die beiden von einer klassischen dichten Soße, die genau den richtigen Schuss Intensität gibt.
Besondere Erwähnung verdienen die Pommes Frites. Es gibt sie zum dünn geklopften, tellergroßen und mürben Kalbspaillard mit hausgemachter Kräuterbutter, das wegen seines Grillmusters sehr schön aussieht. Oder zum - hier wird Carlos noch einmal untypisch unbescheiden - "legendären" Wiener Schnitzel. Zum perfekten Wiener Schnitzel ist schon so viel geschrieben worden; deswegen hier nur der Satz: Ja, es ist exakt so, wie ein Wiener Schnitzel sein sollte. Das vom "Borchardt" jedenfalls kann nicht mithalten. Die Kartoffeln also. Sie sind winzig und damit pommes allumettes, Streichholz-Fritten. Die Jungs vom "Aldier" machen sie aus Bintje. Sie werden blanchiert und zweimal in Erdnussöl frittiert. So knusprig, so kartoffelig! Ich werde zum Kind und vertilge auch den kleinsten Krümel.
Man genießt die schnörkellosen Gerichte einem freundlichen Raum mit heller Arvenholz-Vertäfelung, knarzendem Fischgrätenparkett, quadratischen Bistro-Tischen und kugelförmigen Lampen. Man hört gedämpften Jazz, blickt auf Gäste, die wohlhabende Zürcher zu sein scheinen, und ist umgeben von dicht gehängten Giacometti-Lithografien. Organisatorisch arbeiten Restaurant und Pension präzise und unauffällig wie ein Uhrwerk, was der geschäftsführenden Direktorin Nadia Rybarova zu verdanken ist. In den nächsten Jahren wird sie die Gesamtregie übernehmen. Gemessen am Wechselkurs des Franken, den traditionell hohen Schweizer Preisen und der herausragenden Qualität der Produkte ist das Essen außerordentlich preiswert.
Am Ende verdichtet sich alles im wundervoll doppelsinnigen Wahlspruch der "Pensiun Aldier", der auch auf der sehr schönen Website auftaucht: "Einfach sein".
Beim Weißwein empfiehlt Nadia Rybarova einen Riesling-Silvaner 2021 Malanser AOC Graubünden von Ueli und Jürg Liesch. "Er ist frisch mit einer leichten Birnennote, grünem Apfel und Muskat. Am Gaumen mit kecker Säure und leicht mineralisch." (20 Euro, beim Produzenten)
Der Rotwein kommt aus dem Piemont. Es ist ein Sciulun Langhe Rosso DOC 2018 von Franco Conterno, eine Cuvée aus Nebbiolo, Barbera und Merlot, die 18 Monate im Barrique war. "Dieser Wein hat eine intensive rubinrote Farbe, fruchtige Düfte, eine typische Holznote und ist körperreich und gut strukturiert." (23 Euro, direkt über Aldier)
Quelle: ntv.de