
Kutteln sind vielleicht nicht jedermanns Sache, aber der Autor ist schwer verliebt! Und satt!
(Foto: IMAGO/YAY Images)
Was für ein Teller! Das satte Braun der Sauce, ihr seidiger Glanz. Ihr Duft, ihr Geschmack! Benebelnd. Fleischig, würzig, mit einem Hauch Süße, von Rotwein, etwas Kümmel und Koriander. Die feinen hellen Fleischstreifen, dünne gehobelte Karotten und Sellerie, leuchtend grüner Schnittlauch. Und die prächtig-reschen Bratkartoffeln. Glück!
Vor mir steht ein Teller Kutteln! Eines von zwei Kuttelgerichten, um die sich dieser Artikel dreht. Beide kommen aus berühmten Häusern im Schwarzwald – der Traube Tonbach und dem Bareiss in Baiersbronn - von denen jedes gerne als Sieger hervorgehen würde aus diesem kleinen Wettstreit der Kuttelköche.
Halt! Haben Sie gerade igitt gerufen und das Gesicht verzogen? Kann ich verstehen. Aber lesen Sie bitte weiter, auch wenn das K-Wort im Text 51 Mal auftaucht. Springen Sie über Ihren Schatten! Vergessen Sie Ihre Vorurteile! Es lohnt sich. Ich nehme Sie mit auf eine Reise durch ein unbekanntes Universum. Am Ende habe ich Sie vielleicht zum Kuttelliebhaber bekehrt. In jedem Fall aber zu einem Kuttelliebhaberversteher.
"Antikuttelistischer Schutzwall" mitten in Deutschland
Im Süden und Osten Europas gehören Kutteln nach wie vor zur gelebten kulinarischen Kultur. In Rumänien isst man Ciorbă de burtă, in Bulgarien Schkembe tschorba, in Polen Flaczki. In Portugal findet man Tripas à moda do Porto oder Dobrada, in Spanien Callos a la Madrileña, in Italien Trippa alla fiorentina oder Morzello. Ruhm und Ehre werden Kutteln vor allem in Frankreich zuteil, wo Poeten wie René Girardeau Oden auf Kutteln (!) verfasst haben und wo die Wurzeln der Kuttelkultur zurückreichen bis zu Wilhelm dem Eroberer. Im Mittelalter galten Kutteln als Luxusessen, im 13. Jahrhundert tauchten die ersten Tripiers auf, auf Kutteln spezialisierte Metzger, und in Zeiten der Industrialisierung waren Kutteln ein populäres, günstiges und nahrhaftes Gericht für die entstehende Arbeiterklasse.
Weltweit wohl am bekanntesten sind Tripes à la mode de Caen, deren Authentizität die Confrérie Normande de la Tripière d’Or seit 1952 tapfer verteidigt. Sie werden mit Rinderfuß und Karotten in Brühe gekocht. Die regionalen Variationen mit anderen Zutaten sind unendlich. Diese reichen von Kalbsfüßen, Schweinskopf, Hirn, Zunge oder Wurst über Sahne, Käse oder Gänsefett bis hin zu Safran, Knoblauch, Zwiebeln, Petersilie, Bohnen oder Tomaten. Man kann Kuttel-Suppe, Kuttel-Gulasch und Kuttel-Rouladen machen oder sie, wie in Lyon üblich, panieren und in Butter braten. Tablier de Sapeurs heißt das dann. Überhaupt, die Namen. So poetisch: Tripous, trénels, manouls, pétéram. Und Deutschland? Da gibt es einen unsichtbaren, antikuttelistischen Schutzwall. Er trennt kuttelfreies Terrain im Norden und Osten von gewachsener Kuttelkultur im Süden und Südwesten. Dort heißen Kutteln Flecke, Kaldaunen, Sulz, Flauzen, Piepen oder Schnickerli. Am bekanntesten sind saure Kutteln aus Baden-Württemberg.
Kutteln kochen ist Schwerstarbeit
In der Traube Tonbach spreche ich mit Michael Müller, der die "Feinen Kutteln mit Kalbsfond und Gemüsestreifen" vom Anfang des Texts gekocht hat und der wie seine Kollegen über die körperliche Anstrengung dabei klagt: "Kutteln schneiden ist das Schlimmste, was es gibt." Sie seien zäh und man brauche so viel Kraft, dass einem danach die Handgelenke wehtun. Die Messer würden schnell stumpf; andauernd müsse man sie nachschleifen. "Wenn der Chef sagt, heute kochen wir Kutteln, wünschen sich alle, sie hätten frei". Im Traube-Restaurant Schatzhauser setzen sie die küchenfertigen Kutteln – nur solche vom Kalb - mit einer intensiven Kalbsjus, Wurzelgemüse, Rotwein, Essig, Worcestershiresauce und Gewürzen an und kochen sie auf mittlerer Flamme für gut drei Stunden. "Dann müssen sie in der Sauce abkühlen." Müller macht mehrfach klar, dass er ein "modernes, mildes" Kuttelgericht auf den Teller bringen will.
Jetzt, liebe Leser, ist der Zeitpunkt gekommen, mit all den Missverständnissen aufzuräumen, die im Zusammenhang mit Kutteln durch die Luft schwirren. Kutteln - ist das der Darm? Kutteln – taugen die nicht nur für Hundefutter? Kutteln - riechen die nicht eklig? Drei Mal nein! Ans dritte nein hänge ich ein Aber: Sie können streng riechen, nach Kuhstall sagen manche, das aber nur, bevor sie küchenfertig sind. Kutteln sind der Magen von Wiederkäuern und deswegen naturgemäß nicht "sauber" nach der Schlachtung. Der Magen besteht aus vier Teilen, dem Pansen, dem Netzmagen, dem Blättermagen und dem Labmagen. Letzterer wird meist nicht verwendet. Das erste gründliche Waschen erledigen in der Regel die Lieferanten. In der Traube ist das ein Fleischzerleger im Ort Baiersbronn; das Bareiss wird von einem Großlieferanten versorgt.
Hier die ersten kleinen Unterschiede zwischen unseren Testkutteln. Im Bareiss werden sie über Nacht gewässert; in der Traube kommen sie 24 Stunden lang in kaltes Wasser. Es folgt das Auskochen. Für die Dorfstuben im Bareiss werden Kutteln "mindestens eine Stunde lang weichgekocht, noch einmal abgespült und dann, wenn sie ganz kalt sind, fein geschnitten", sagt mir Küchenmeister Oliver Steffensky. Und die Kollegen in der Traube? Bevorzugen eine radikalere Ent-Kuttelung: Das Fleisch wird sieben Mal hintereinander aufgesetzt – jedes Mal in frischem Wasser - und für jeweils fünf bis zehn Minuten aufgekocht. Die küchenfertigen Kutteln sind leuchtend weiß.
Kutteln sind gesund
Kuttelesser können sich moralisch und gesundheitlich übrigens auf der richtigen Seite verorten: Moralisch, weil sie Nose-to-tail-eating praktizieren und dazu beitragen, dass der Mensch alle Teile eines geschlachteten Tieres verwertet und die Kälbchen nicht nur für ihre Filets, Schnitzel und den Tafelspitz den Bolzen bekommen. Und gesundheitlich, weil Kutteln mager sind. "Sie enthalten nur vier Prozent Fett und lediglich 95 Milligramm Cholesterin auf 100 Gramm", schreibt Harold McGee in seinem Standardwerk "On Food and Cooking". Außerdem haben Kutteln bis zu drei Mal mehr Bindegewebe. Durch langsame Garung mit viel Feuchtigkeit löst sich das Kollagen gut auf. Eben das macht Kuttelsaucen unvergleichlich sämig.
"Wir haben Gäste, die nur wegen der Kutteln zu uns kommen", sagt mir Steffensky. "Eine Dame, ein Stammgast, isst jeden einzelnen Abend Kutteln, wenn sie hier ist". Meist seien es Schwaben oder Badener, die die "Schwäbischen Kutteln süß-sauer mit Bratkartoffeln" bestellen. Er selbst, der aus dem Saarland stammt, habe in seinen 30 Jahren im Schwarzwald nur einmal Kutteln gegessen: "Ist nicht meine Leibspeise". Im Bareiss ist Kalbs-Demi-Glace Ausgangspunkt. Kutteln und Demi Glace werden mit Karotte, Lauch und Sellerie angesetzt und mit Essig abgelöscht. Dazu kommen Lorbeerblatt, Nelken und Pfeffer. Alles wird circa eine Stunde lang sachte geschmort, bis die Kutteln weich sind.
Im tiefen Teller vor mir ist dann ein großartiges Gericht, das spürbar anders ist als das Konkurrenzprodukt der Traube: Eine etwas hellere, nicht ganz so stark glänzende und etwas weniger fleischige Sauce – die aber mit einem wundervollen Säurekick. Für Säurefreaks stellt die Bedienung zusätzlich Essig auf den Tisch. Die Kutteln sind dicker geschnitten als in der Traube; die Fleisch-Struktur ist deutlich erkennbar. Im Mund ein schöner Biss. Der entscheidende Unterschied: Die Kutteln haben ein zwar immer noch dezentes, aber durchaus wahrnehmbares, würziges Kuttelaroma - in der Nase und im Mund. Man weiß immer, was man isst. Beide Teller verdienen das in Inflationszeiten bemerkenswerte Prädikat: "Kutteln für Knauser". Wo gibt es denn noch ein Hauptgericht in einem schönen Restaurant für unter 20 Euro!
Und welches Kuttel-Gericht war nun besser? Salomonisches Urteil: keines; klassisches Unentschieden. Beide Kuttel-Köche haben mich jauchzen lassen, jeder auf seine Art. Die Bareiss-Kutteln urwüchsiger und authentischer. Die Traube-Kutteln eleganter und süffiger. Ich esse einfach beide, wenn ich in Baiersbronn bin. So einfach und so schön ist das Kuttelesserleben. Können Sie alles auch haben. Sie müssen sich nur trauen.
Chef-Sommelier Stéphane Gass von der Traube Tonbach empfiehlt zu Kutteln einen 2019 Blauen Spätburgunder vom Weingut Karl-Heinz Johner in Bischoffingen zu den Kutteln. "Der Wein hat eine sehr feine Würze im Duft, eine frische Kirschfrucht, ist am Gaumen saftig und sehr animierend. Man greift nach jedem Löffel Kutteln kurz zum Glas." (ca. 20 Euro, direkt ab Weingut)
Sein Kollege Teoman Mezda vom Hotel Bareiss bevorzugt einen Weißwein zu den Kutteln, einen 2021 Grauburgunder "Gneis" vom Weingut Frey in Denzlingen. "Ein vielschichtiger Grauburgunder mit nussig-erdigem, mineralischen Geschmack und einem langen Nachhall." (ca. 10 Euro, direkt ab Weingut)
Quelle: ntv.de