Moore wird in Venedig gefeiert Abrechnung mit dem Kapitalismus
06.09.2009, 14:44 UhrDa sagt einer die Wahrheit. Er ist dick und nicht sonderlich attraktiv - für Hollywood-Maßstäbe. Er weiß es. Er lacht drüber. Denn alle wollen zu ihm: Michael Moore! Riesenandrang, viel Beifall, ein Interview nach dem anderen: Wenn der 55-jährige Arbeitersohn aus Flint in Michigan auftaucht, rockt die Bühne.
Denn der kämpferische US-Dokumentarfilmer Michael Moore hat mitgebracht, worauf Venedig gespannt war: Seine Abrechnung mit dem kapitalistischen Krisensystem, das Menschen ins Elend treibt und die Reichen immer reicher macht. "Capitalism: A Love Story" ging am Sonntag als ein chancenreicher Kandidat für den Goldenen Löwen des Filmfestivals der Lagunenstadt ins Rennen. Die Konkurrenz ist jedoch auch zahlenmäßig ziemlich groß: Die 25 Filme im 66. Wettbewerb seien, unabhängig von ihrer Qualität, eine wahre Überdosis, meinen Kritiker. Auch durch das Großangebot wird Venedig nicht zum Festival von Werner Herzog, der überraschend gleich mit zwei Filmen antritt und trotz aller Konkurrenz seinen großen Auftritt am Lido hatte.
Beleibt und beliebt
Das alles rührt den Mann nicht, der spätestens seit dem preisgekrönten "Bowling for Columbine" (2002) gegen den Wahnsinn der Waffen-Kultur in den USA weltweit bekannt ist. Mit der zweistündigen aktuellen Bestandsaufnahme zum "Niedergang des Kapitalismus" feiert der beleibte und beliebte Systemkritiker ein Jubiläum - vor 20 Jahren hatte er mit "Roger & Me" seinen Durchbruch. Seine Abrechnung mit US- Präsident George W. Bush in "Fahrenheit 9/11" brachte ihm dann 2004 die Goldene Palme von Cannes ein. Ist auch am Lido ein Preis drin?
"Capitalism: A Love Affair", im bewährten Strickmuster Michael Moores gehalten, beginnt mit Bildern wilder Banküberfälle in den USA und fragt, ob nach dem Niedergang Roms vor langer Zeit nun Washington an der Reihe sei. Szenen verelendeter einstiger Hausbesitzer in der Immobilien-Krise, verarmte Flugzeugpiloten, die sich mit Blutspenden oder Essensmarken über Wasser halten, das ist eine Seite der Medaille in der Finanz- und Wirtschaftskrise. "Condo-Vultures", die in Florida Immobilien-Geschäfte mit den aufgegebenen Häusern machen, Firmen, die sich am Tod ihrer Mitarbeiter durch Versicherungen bereichern - dies sind "Kriegsgewinnler" des Systems. "Geben und nehmen, vor allem aber nehmen", so lautet die Devise: Angefangen hat es vor 30 Jahren, als Ronald Reagan Präsident wurde und damit - laut Moore - die Wirtschaft das Land regierte. Davor liebten die Amerikaner ihr Konsumparadies.
Obamas Handlanger
"Die Vampire der Wall Street haben alles Geld aus uns gesogen", sagt Moore. Im Film fährt er im Geldtransporter bei den Großbanken vor und will seine Kohle zurück. Weil auch die Demokraten Barack Obamas Handlanger bei der "Plünderung der Steuerzahler" waren, setzt Moore zwar auch auf den neuen Präsidenten selbst, vor allem aber den "Obama-Effekt": Moore wirbt für Betriebskooperativen, für Rebellionen gegen Immobilien-Haie, für Bürgerbewegungen. Das Motto: "Weg mit dem Kapitalismus, es lebe die Demokratie", und zwar eine soziale, so wie sie US-Präsident Franklin D. Roosevelt einst in Gang setzen wollte.
Auch Werner Herzog sorgte in Venedig für Staunen. Mancher rieb sich die Augen, als klar wurde, dass der in den USA lebende Herzog ("Aguirre", "Fitzcarraldo") gleich mit zwei Filmen im Wettbewerb ist. Erst hatte er "Bad Lieutenant: Port of Call New Orleans" vorgestellt, dann als "Überraschungsstreifen" den amerikanisch-deutschen "My Son, My Son, What Have Ye Done?": Besessen davon, einen Fluch ablegen zu müssen, begeht Brad Macallam (Michael Shannon) den Mord an seiner Mutter so, wie er es in der griechischen Tragödie zuvor gespielt hatte: mit dem Schwert. Brad hat Depressionen, Visionen und Eingebungen, folgt in religiösem Wahn einer inneren Stimme und verbarrikadiert sich nach dem Mord an der überbehütenden Mutter - angeblich mit zwei Geiseln.

Genauso wie Isabelle Huppert ...
(Foto: dpa)
Horror ohne Blut
"Ich wollte einen Horrorfilm ohne Blutbad und Kettensägen machen, aber es sollte dabei in einem eine seltsame, diffuse Angst aufkommen." So sagt Herzog zu dem in San Diego angesiedelten Drama, das auf einer wahren Begebenheit beruht. Venedigs künstlerischer Direktor steht zur Doppel-Entscheidung, die Herzog nicht begünstige: Er mache sich erstens nun selbst Konkurrenz, "und die Jury könnte das Ganze sogar als Druck empfinden und ablehnen", erklärte Marco Müller.
"Danke, Marco Müller!"
Glänzend gelaunt ob der Doppelpräsenz im Wettbewerb, die es in der jüngeren Geschichte des renommierten Filmfestivals noch nie gegeben hat, bedankte sich Herzog bei dem künstlerischen Direktor: "Vielen Dank, Marco Müller, vielen Dank, Venedig. Denn kein anderes Festival wäre wohl so verrückt, zwei Filme eines Mannes zu zeigen." Als Müller von seinem zweiten Streifen erfahren habe, "wollte er ihn unbedingt haben". Und machte so dem Regisseur ein ganz besonderes Geschenk zum 67. Geburtstag. Den dieser am Samstag am Lido feierte - mit einer großen bayerischen Torte in roter Schachtel, von Müller überreicht.
Quelle: ntv.de, soe/dpa