"Tatort: Der Stelzenmann" Beine bis zum Kinn
01.01.2025, 21:56 Uhr Artikel anhören
		                      Volle Konzentration im Ludwigshafener "Tatort"-Team.
(Foto: © SWR/Benoît Linder)
Im Ludwigshafener "Tatort" verkam die Titelfigur des Stelzenmannes am Ende zu einem weinerlichen Versager. Keine Stelzen, kein Mumm. Die hölzernen Beinverlängerungen selbst haben eine jahrhundertealte Tradition.
Was wohl Sylvain Dornon vom "Tatort" gehalten hätte? Wahrscheinlich hätte er nur müde mit den Achseln gezuckt und wäre zurück in seine Backstube gegangen. Dornon war aus anderem Holz geschnitzt als der kümmerliche Kindesentführer Oliver Kelm (Ulrich Friedrich Brandhoff). 58 Tage lang, jeweils etwa 60 Kilometer, das Ganze auf Stelzen, so stakste der Bäcker aus Arcachon anno 1891 quer durch Europa, von Paris bis nach Moskau. Zwischendurch habe er den Zug genommen, so munkelte man. Tatsächlich war er in Jastrow mit der Bahn gefahren, um bei einer Zirkusveranstaltung aufzutreten, anschließend hatte er seine Wegstrecke genau dort zu Fuß wieder aufgenommen.
2875 Kilometer waren es am Ende vom Place de la Concorde bis in die russische Metropole. Es gab Sekt zum Empfang, einiges an Auftritten. Später kehrte Dornon in seine Heimatstadt Arcachon zurück und buk fortan wieder kleine Brötchen - bis er im Jahre 1900 im Alter von nur 42 Jahren verstarb.
Warum das alles? Dornon gefiel die Tradition der Stelzenstangen, der "échasses", wie sie heute heißen. Anfang des 18. Jahrhunderts hatten Hirten die Stangen benutzt, um in sumpfigen Gebieten voranzukommen und aus erhöhter Position den Überblick über die Herde zu behalten. Mit zunehmender Bewaldung und Trockenlegung wurden die Stelzen als Arbeitsinstrument obsolet, für Tänze und Aufführungen jedoch, für Rennen und Geschicklichkeitsspiele blieben die Holzstangen, auch dank Dornons herausfordernden Projekts, bis heute populär.
Für die Arbeit und zum Spaß
Kein typisches französisches Phänomen, überall auf der Welt benutzte man die Beinverlängerungen sowohl für die Arbeit als auch zum Vergnügen. In Großbritannien erntete man bis Mitte des 20. Jahrhunderts Hopfengras auf bis zu vier Meter langen Stelzen. In den Staaten wurden sie beim Fensterputzen und der Kaminreinigung eingesetzt, auch beim Anmalen hoher Decken vertraute man auf Stelzen.
In Westafrika ist der Stelzenlauf Teil schamanischer Riten und während dort in einigen Ländern Kindern der Gebrauch untersagt ist, hat Pieter Bruegel der Ältere sie bereits um 1560 in seinem Gemälde "Die Kinderspiele beim Stelzenlauf" verewigt. Mit Blick auf ihre Rolle bei historischen Karnevalsveranstaltungen und dem späteren Typus in Horrorfilmen bis hin zum "Tatort"-Titelhelden sind die Grenzen zwischen Entertainment, Vergnügen und gruseliger Gänsehaut fließend. Stelzenmonster sind heute Teil von Halloween-Umzügen, gehören unverzichtbar zum venezianischen Karneval und haben sich kaum zufällig in der Geschichte des Horrorfilms verewigt. US-Filmemacher Dylan Holmes Williams' Kurzfilm "Stilts" (2019) braucht ganze sieben Minuten, um das Grauen auf Stelzen nachhaltig verstörend zu veranschaulichen.
Rückgriff auf realen Hintergrund
  Der Stelzenmann im gleichnamigen "Tatort" soll an ein böses Märchen erinnern.
(Foto: SWR/Benoît Linder)
Auch "Tatort"-Drehbuchautor Harald Göckeritz griff auf einen realen Hintergrund zurück. "Die Idee des Stelzenmanns geht zurück auf eine angsteinflößende Kindheitserinnerung von Regisseur Miguel Alexandre", so Göckeritz im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur. "Mir hat diese Idee gefallen, weil es Momente im 'Stelzenmann' gibt, die an ein böses Märchen erinnern." Ausgesprochen schade, dass man von diesem furchterregenden Protagonisten dann doch nur so wenig zu sehen bekam - "Der Stelzenmann" hätte durchaus das Potenzial zu einer deftigen Horrorschnurre gehabt. Vielleicht zu hart für einen angekaterten Neujahrsabend?
Bereits am Sonntag, dem 5. Januar, um 20.15 Uhr, geht das "Tatort"-Vergnügen weiter. In Köln agieren die Hauptkommissare Ballauf und Schenk dann ganz ohne Beinverlängerungsmaßnahmen. Der Fall "Restschuld" kommt thematisch eher bodenständig daher - es geht um den Überfall auf einen jungen Inkasso-Manager.
Quelle: ntv.de