Streetart in Deutschland Ich mal mir die Welt, wie sie mir gefällt
03.10.2013, 17:08 Uhr
Make Love not War in München: Der Künstler ist unbekannt, fotografiert von Martin Arz.
(Foto: Martin Arz)
Streetart ist die Kunstbewegung für das 21. Jahrhundert: schnell, direkt, urban. Ein Buch bietet einen gekonnten Überblick über Möglichkeiten und Einfallsreichtum der Straßenkunst in Deutschland. Die Auswirkungen der Bewegung auf die Kunstwelt zeigt derweil die Messe "Stroke".
"Ist das Kunst oder kann das weg?" In Museen für moderne Kunst gehört diese Frage zum Standardrepertoire. Doch immer öfter kann sie auch im alltäglichen Leben gestellt werden, auf Straßen und Gehwegen, an Strommästen und Verkehrsschildern. Denn gerade in Großstädten ist Streetart zum Phänomen geworden. Da begegnet man immer öfter Graffitis und Aufklebern, Paste-Ups (Plakaten) und Stencils (mit Schablonen aufgetragene Graffitis), Strickwaren und Skulpturen.
Die Ansichten, ob Streetart Kunst ist oder weg kann, gehen allerdings weit auseinander. Für viele Betrachter sind es kleine Kunstwerke, die nicht nur das graue Straßenbild bereichern, sondern auch zum Schmunzeln oder Nachdenken anregen. Für Hausbesitzer und Polizei sind die Schöpfungen dagegen oft ein Ärgernis. Denn das ist die andere Seite der Streetart: Sie ist oftmals illegal. Doch davon abgesehen bleibt festzustellen, dass keine Kunstbewegung dem digital geprägten Leben im 21. Jahrhundert so sehr entspricht wie die Straßenkunst. Sie ist schnell, pointiert, urban - aber auch vergänglich. Manch ein Kunstwerk ist bereits am folgenden Tag wieder verschwunden.

Das sieht man viel zu selten in Deutschland: Dome macht aus einem Brückenpfeiler in Karlsruhe Kunst, fotografiert von Polypix.
(Foto: Dome / Polypix)
Wie vielfältig Streetart ist, verdeutlicht ein Buch. "Streetart in Germany", erschienen im Riva-Verlag, gibt einen sehenswerten Überblick über die verschiedensten Werke auf deutschen Straßen. Doch auf der anderen Seite sind Künstler und Techniken der Streetart längst über den öffentlichen Raum hinausgewachsen. So zeigt die "Stroke Art Fair" vom 3. bis 6. Oktober in Berlin, wie Stilmittel und Ausdrucksformen von der Straße den Kunstmarkt beeinflussen, wie Künstler auf der Straße aktiv werden und gleichzeitig Galerien und Wohnzimmer erobern. Beides schließt sich keineswegs aus.
Vom infantilen Spruch bis zur großen Kunst
"Streetart in Germany" begann 2010 als Projekt in sozialen Netzwerken. Der Maler, Musiker und Fotograf Timo Schaal veröffentlicht seitdem unter dem Pseudonym "Polypix" regelmäßig Bilder von Straßenkunst in Deutschland, aber auch internationale Klassiker. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten - auf Facebook hat die Seite mittlerweile weit mehr als 900.000 Fans. Und die beteiligen sich rege, indem sie selbst Bilder einsenden von Graffitis und anderen Kunstwerken.
Die Idee, aus den besten Bildern ein Buch zu machen, lag da nahe. In "Streetart in Germany" bekommt man auf fast 200 Seiten die gesamte Vielfalt der Straßenkunst in Deutschland geboten, vom infantilen Witz über revolutionäre Sprüche und bissige Satiren bis zu großflächigen Werken, vom illegalen Graffiti über den Aufkleber am Treppengeländer bis zur Auftragsarbeit. Da werden Verkehrsschilder auf humorvolle Weise bearbeitet, Bäume mit Stricksachen ummantelt und ein blauer Mülleimer wird mit einfachsten Mitteln zum Krümelmonster aus der Sesamstraße. Gerade die Popkultur steht bei vielen Werken Pate und sorgt für einen schnellen, vor allem aber globalen Wiedererkennungseffekt. Auch das zeichnet Streetart aus: Sie ist international. Anspielungen auf Figuren wie "E.T." und auf Spiele wie "Pac-Man" werden in Berlin ebenso verstanden wie in Rio de Janeiro, Kapstadt, Hongkong und New York.
Auch "Star Wars" ist ein wiederkehrendes Motiv. Angela Merkel als Darth Vader ist ein Klassiker und verweist darauf, dass Streetart auch Bezug nimmt zu konkreten Ereignissen aus Politik und Gesellschaft. Sei es der Papst, der heimlich Kondome am Automaten zieht, sei es ein geknickter Grieche, der die Europafahne hinter sich herzieht. Und immer wieder Merkel. Streetart ist hier näher an der politischen Karikatur als an der bildenden Kunst. Dabei ist sie durch ihre öffentliche Präsentation auf der Straße überraschender und effektvoller als die Zeitungs-Illustration.
Überhaupt zeigt das Buch, wie mit wenig Aufwand große Effekte erzielt werden - wenn man nur eine zündende Idee hat. Abseits der politischen Werke stellt sich da die Frage, warum im öffentlichen Raum nicht viel mehr Stromkästen, Brücken und Betonpfeiler umgestaltet und damit vom grauen Schandfleck zum farbigen Hingucker werden. Streetart ist eben auch eine Protestbewegung, die sich gegen den Glas-Stahl-Beton-Einheitslook der internationalen Architektur wendet und stattdessen mehr Farben, mehr Vielfalt und mehr Kreativität einfordert, mithin mehr städtische Individualität.
Das Buch präsentiert sich dabei so bunt wie eine vielbeklebte Häuserwand, was allerdings hier und da etwas beliebig wirkt - die technische wie inhaltliche Qualität der Werke schwankt stark. Zwar werden immer wieder thematisch ähnliche Bilder zusammengefasst, doch ein roter Faden ergibt sich bei der Lektüre nicht. Zudem hätte man gern ein paar Hintergründe erfahren zu den Stilmitteln und Arbeitstechniken der Künstler. Doch da diese oft gar nicht bekannt werden wollen, enthält sich Herausgeber Schaal jeglicher Kommentare. Sein Ziel ist es eher "die Akzeptanz dieser Kunstform in der Bevölkerung zu erhöhen", wie es im Vorwort heißt, "und das eine oder andere Vorurteil gegenüber den Protagonisten und ihren Werken zu überdenken".
Rekordsummen für Streetart

Die Abgrenzung der "Stroke" zum klassischen Kunstbetrieb ist kleiner geworden. Aber es geht immer noch um den entspannten Genuss von Kunst. Hier ein Blick in die Präsentation der "Gallery Longbeach California" mit Werken von André Deloar.
(Foto: Markus Lippold)
Dass dies bei vielen Menschen bereits geschehen ist, steht außer Frage. Ja, es schlägt sogar ins Gegenteil um. So werden Straßenwerke des britischen Künstlers Banksy mit Plexiglas vor Schäden geschützt oder ganze Wände herausgesägt - was dem Sinn der Streetart geradezu entgegensteht. Ein Wunder ist das allerdings nicht, bringen Banksys Werke doch bei Auktionen Rekordsummen ein.
Längst hat die Streetart Galerien, Auktionen und Museen erreicht, haben Sammler die Kunstbewegung für sich entdeckt. So verwundert es nicht, dass etliche Künstler, die in dem Buch "Streetart in Germany" mit ihren Straßenwerken präsentiert werden, mittlerweile auch für Museen und Wohnzimmer produzieren, indem sie Kunstdrucke von ihren Motiven herstellen.

Venus besiegt Hulk: Das Spiel mit Elementen der Popkultur bleibt, nur die Präsentation ist eine andere: Werke von Marco Kooiman auf der "Stroke".
(Foto: Markus Lippold)
Dass Streetart, die an der heimischen Wand hängt, keine Straßenkunst mehr ist, merken nicht nur Kritiker an, die dann gern von Kommerzialisierung sprechen. Auch die Macher der Kunstmesse "Stroke" verzichten bewusst auf den Begriff. Sie sprechen lieber von Urban Art, urbaner Kunst. Diese greift auf die Stilmittel zurück, die in der Straßenkunst verwendet werden. Und sie erweitert sie. Graffiti trifft hier auf Comics, Illustration und Fotografie, auf Grafik- und Motion Design, aber zunehmend auch auf klassische Malerei, auf skulpturale, audiovisuelle und Performance-Kunst. Die Messe, die 2013 ins fünfte Jahr geht und steigende Besucherzahlen verzeichnet, strich deshalb jüngst den Begriff "Urban Art" aus dem Namen. Die Grenzen zwischen den Kunstformen verschwimmen zusehends.
Die Verbindung zur Streetart ist aber durchaus noch gegeben. So stellen hier etwa auch Künstler aus, die im Buch "Streetart in Germany" erscheinen. Alias aus Berlin etwa. Die Motive, die er sonst auf Mauern anbringt, hängen hier an der Wand. Als Untergrund nutzt er allerdings keine Leinwände, sondern Metallplatten und Holzstücke, die er wiederum auf der Straße findet.

Aber natürlich gibt es auch noch Graffiti auf der "Stroke". Dieses stammt von Christopher Kieling, der sich als Einzelkünstler präsentiert.
(Foto: Markus Lippold)
Auch die Gesichter von Prost findet man in Berlin an vielen Häuserwänden - und im erwähnten Buch. Auf der "Stroke" kann man einige seiner Werke kaufen. Peintre x aus München, der ebenfalls auf der Messe vertreten ist, geht einen anderen, ungewöhnlichen Weg. Die Verbindung zur Straße stellt er her, indem er einige seiner Bilder in den öffentlichen Raum stellt, zur freien Verfügung der Menschen. Auch wenn die Werke oft schnell mitgenommen werden - Peintre x will damit der Gesellschaft, die seine Kunst inspiriert, etwas zurückgeben.
Die Verbindung zu ihren Ursprüngen will die "Stroke", die vom 3. bis 6. Oktober in Berlin Station macht, aber auch durch ihr Programm herstellen. Hier präsentieren sich nicht nur Galerien und Künstler aus ganz Europa, aus Brasilien, den USA, Chile und vielen anderen Staaten. Vor allem soll das Erlebnis von Kunst im Mittelpunkt stehen. Statt wie etablierte Messen auf Glamour, Exklusivität und Rekordpreise zu setzen, will die "Stroke" den Besuchern einen Blick in die Werkstatt der Künstler ermöglichen. So fertigen einige von ihnen auch in diesem Jahr ihre Werke live vor Publikum an. "Die Stroke Art Fair will die Besucher wieder zurück zum puren Kunstgenuss bringen", sagt auch Marco Schwalbe, der Creative Director der Messe. Man könne "die frische Farbe regelrecht riechen", fügt er an, auf der "Stroke" mache Kunst einfach Spaß.
Dabei trägt man in diesem Jahr auch einer neuen Entwicklung Rechnung. Wie in anderen Kunstbereichen wie der Musik meiden auch Künstler vermehrt den Umweg über Galerien oder Kunsthändler. Viel lieber erledigen sie Vermarktung und Vertrieb ihrer Werke direkt über das Internet und soziale Netzwerke. Sie bekommen auf der "Stroke" erstmals die Möglichkeit, sich in zwei separaten Räumen selbst zu präsentieren, im direkten Kontakt mit den Besuchern.
"Streetart in Germany" bei Amazon bestellen. Eine Leseprobe gibt es auf der Seite des Verlages.
Die "Stroke Art Fair" findet vom 3. bis 6. Oktober in der Berliner Alten Münze statt. Mehr Informationen gibt es hier.
Quelle: ntv.de