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Das Jenke-Experiment - Essstörungen "Ist mir egal, ob ich mit 30 sterbe!"

"Essen, Kotzen, Essen, Kotzen - immer, den ganzen Tag."

"Essen, Kotzen, Essen, Kotzen - immer, den ganzen Tag."

(Foto: RTL / Jürgen Schulzki)

Die einen hungern, ritzen und schneiden sich das Fleisch aus den Armen, die anderen suchen Trost im Essen. Eines haben alle gemeinsam: Narben auf der Seele und Mobbing-Erfahrungen. Was durchleben Essgestörte? Jenke wagt das Experiment.

"Das Leben besteht nur aus Essen, Kotzen, Essen, Kotzen - immer, den ganzen Tag", sagt Johanna, 28 Jahre alt, anorektisch und bulimisch. Dabei sieht die junge Frau mit den dunklen langen Haaren, seit sie wieder ein paar Kilo mehr auf den Rippen hat, "wunderschön" aus.

Aber was bringen ihr die anerkennenden Blicke der anderen, wenn sie sich mit diesen Kilos schrecklich fett fühlt? "Untergewicht ist lebensverkürzend", versucht ihre Therapeutin sie immer und immer wieder auf ihre lebensbedrohliche Krankheit zu sensibilisieren. Aber Johanna antwortet nur: "Ist mir egal! Ist mir egal, ob ich mit 30 sterbe, Dünnsein ist mir wichtiger, als am Leben zu bleiben!"

Wie fühlt sich Anorexie an?

Nach seinem freiwilligen Knastaufenthalt in der vergangenen Woche möchte Jenke dieses Mal wissen, wie es sich anfühlt, essgestört zu sein. Man muss neben Experimentierfreude und Neugier schon einen großen Schuss Wahnsinn in sich haben, um freiwillig einen Monat lang auf feste Nahrung zu verzichten und sich an ein solch gefährliches Unterfangen heranzuwagen.

Aber Jenke will es durchziehen: Wie fühlen sich anorektische Mädchen? Welche Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen hat die dritthäufigste Krankheit bei jungen Frauen?

(Foto: RTL / Gregorowius/von Wilm)

Mit einem Anfangsgewicht von 83 Kilo und einem Körperfettanteil von 12 Kilo stürzt Jenke sich, unter ärztlicher Beobachtung, Hals über Kopf in die selbst erzwungene Magersucht. Schon nach zwei Tagen ohne Nahrung spürt der Reporter ihn zum ersten Mal: "den Machtgewinn", dieses unglaubliche Gefühl, seinen Körper komplett zu beherrschen. Der anfängliche, Übellaunigkeit bereitende Hunger ist verschwunden, Jenke findet langsam Gefallen an seinem immer dünner werdenden Bauch.

"Die Beinchen eines 14-Jährigen"

Bilanz nach zehn Tagen radikalen Hungerns: 6 Kilo Gewichtsverlust, davon allein 3 Kilo Fett. Jenke geht's gut, er genießt seinen veränderten Körper und schwärmt von seinen neuen "Beinchen, den Beinchen eines 14-Jährigen". Dabei hat er inzwischen Schwierigkeiten, einen gewöhnlichen Joghurt zu essen. Dies liegt daran, "weil er gerade dabei ist, immer tiefer in die Anorexie abzurutschen", so sein betreuender Psychologe.

Dass Magersucht aber kein Experiment ist, das nach zwei Wochen wieder einfach abgebrochen werden kann, indem man sich genüsslich eine Currywurst einverleibt, zeigt sich an den vielen Fällen essgestörter Mädchen, die Jenke während seiner freiwilligen Nahrungsverweigerung trifft: Da ist Celina, die sich unsäglich hässlich findet, Denise aus Österreich, die ihren Körper schon gar nicht mehr spürt, oder Nadine, die zusätzlich Bulimie hat und sich bis zu 25 Mal am Tag erbricht.

Viele dieser bulimisch-anorektischen Mädchen eifern einem abnormen Schönheitsideal nach und ritzen sich zusätzlich. Einige schneiden sich vor Schmerz, der auf ihrer Seele lastet, ganze Fleischstücke aus ihrem Oberarm. Spannungsabbau nennen sie das. Der eine Schmerz wird mit einem anderen Schmerz bekämpft - der Wut irgendwie Ausdruck verleihen, auch wenn es wehtut. Schmerz ist manchmal das Einzige, was diesen Mädchen an Gefühl geblieben ist, es ist ihr Schmerz, den kann ihnen keiner nehmen, den kontrollieren sie ganz allein.

Was kränkt, macht krank

Auffällig ist, dass viele Symptome dieser heimtückischen "Arschloch-Krankheit" auf Spott und Hohn in der Adoleszenz zurückzuführen sind. Oft spielen Missbrauch und Gewalt eine Rolle, fast immer aber Mobbing: "Du fette Sau, du wirst nie einen Freund kriegen!" Was den Menschen kränkt, macht ihn krank.

Ein Mensch, der anorektisch ist, darf niemals zugeben, dass er Hunger hat. "Das ist ein No-Go", sagt der magersüchtige 42 Jahre alte Frank Menzel, der bei über einem Meter achtzig gerade einmal 50 Kilo wiegt und inzwischen sogar "von einer Windböe weggepustet wird". "Haste denn jetzt Hunger?", will Jenke wissen. "Ja", antwortet der ausgemergelte, freundliche Mann mit der Körperschema-Störung.

Am Ende seines Experiments ist Jenkes Herz schwach und er hat ein schlechtes Gewissen, weil er ein Stück Pflaumenkuchen gegessen hat - während sein Körper in der Phase steckt, in der er beginnt, sich selbst zu verdauen. Er hat sich freiwillig ein paar Einläufe verpasst, sich den Finger in den Hals gesteckt und wochenlang nichts gegessen. Er ist ausgezehrt und schaut aus leeren Augen.

Die Verzweiflung der Angehörigen

Vielleicht ist er in die Hölle dieser Krankheit ein paar Meter hinabgestiegen, gut betreut, vorsichtig und bei offener Tür, die das Lebenslicht hereinlässt. Eine Hölle, der er nach wenigen Tagen entkommt. Wie wichtig es aber ist, auf diese Krankheit aufmerksam zu machen, immer und immer wieder, zeigt sich auch in den Erfahrungen, die Jenke macht, als er sich mit einer Spezialmaske in den Alltag eines Übergewichtigen stürzt. Er wird angeglotzt, belächelt und als "Fettsack" beschimpft.

Dass diese Krankheit aber nicht nur Betroffene, sondern auch für Angehörige und Freunde schlimm ist, zeigt sich vor allem in der Hilflosigkeit, angemessen zu reagieren, wenn man mitbekommt, wie Essgestörte gemobbt und schikaniert werden. So wünscht man jenen, die aus purem Spaß und Boshaftigkeit auf den sensiblen Seelen vermeintlich Schwächerer herumtrampeln, dass sie nur einziges Mal miterleben müssten, wie es sich anfühlt, wenn da nichts mehr im Leben ist, außer: "Essen, Kotzen, Essen, Kotzen - immer, den ganzen Tag."

Quelle: ntv.de

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