Regisseur Mike Nichols ist tot Mit dem Finger in der Wunde bohren
20.11.2014, 15:15 Uhr
Mike Nichols wurde 1931 in Berlin geboren.
(Foto: dpa)
Mit "Die Reifeprüfung" setzte er den 60er-Jahren ein Denkmal. Der Film machte Regisseur Mike Nichols zum Star. Auch später blieb er der kritische Kommentator des US-Kinos, thematisierte Atomunfälle, Aids und Krieg. Nun stirbt er mit 83 Jahren.
"Die Reifeprüfung" ist ein Film, der das Denken einer ganzen Generation zeigt. Jener Jugendlichen, die den Aufbruch der 60er-Jahre verkörpern, die sich frei machen von althergebrachten Traditionen, von gesellschaftlicher Prüderie und sexueller Verklemmtheit. Es sind Bilder, die jeder Kinogänger kennt: Benjamin Braddock (Dustin Hoffman), der sich treiben lässt im Pool seiner gutsituierten Eltern. Der eine Affäre mit Mrs. Robinson beginnt, sich dann aber in deren Tochter Elaine verliebt. Der um sie kämpft und schließlich mit ihr durchbrennt.

Dustin Hoffmann erliegt in "Die Reifeprüfung" den Reizen von Mrs. Robinson (Anne Bancroft).
(Foto: imago stock&people)
Mike Nichols hat als Regisseur die Stimmung dieser Jahre kongenial auf die Kinoleinwand gebracht. Auch später thematisierte er stets gesellschaftliche Entwicklungen und brisante Themen. Nun ist Nichols mit 83 Jahren gestorben, wie US-Medien übereinstimmend berichten. Er hinterlässt seine Frau, die bekannte Nachrichtensprecherin Diane Sawyer, sowie drei Kinder. Als Spross einer jüdischen Familie wurde er am 6. November 1931 in Berlin geboren. 1938 emigrierte die Familie in die USA. Nichols wurde Mitglied einer Comedy-Truppe, arbeitet am Theater als Autor und Regisseur. So inszenierte er Robert Redford mit großem Erfolg in "Barefoot in the Park" oder brachte "The Odd Couple" auf die Bühne. Beide Stücke wurden später verfilmt.
Meryl Streep und Harrison Ford
"Die Reifeprüfung" von 1967 machte ihn bald zu einem Star. Mit Mitte 30 bekam dafür einen Regie-Oscar. Eine Nominierung für sein Debüt "Wer hat Angst vor Virginia Wolf?" mit Elizabeth Taylor und Richard Burton hatte er bereits zwei Jahre zuvor erhalten. Ihm stand eine große Hollywood-Karriere bevor, als Vorreiter des New Hollywood, jenes Kinos, das das alte Studiosystem überwand.

"Die Waffen der Frau" mit Melanie Griffith, Harrison Ford und Sigourney Weaver (r.).
(Foto: imago stock&people)
Doch die folgenden Filme entsprachen nicht den Erwartungen, die Zuschauer blieben aus. "Catch 22" fehlte der anarchische Sarkasmus der Literaturvorlage von Joseph Heller. Auch mit "Die Kunst zu lieben" und "Der Tag des Delphins" konnte er nicht an seine frühen Erfolge anknüpfen. Nichols zog seine Konsequenzen: Er wandte sich von Hollywood ab und arbeitete fortan am Broadway und für das Fernsehen.
Erst in den 80ern drehte er wieder Filme - und die Stars stehen Schlange für Nichols' Projekte. Dreimal inszenierte er Meryl Streep, in dem Atomthriller "Silkwood" und den Komödien "Sodbrennen" und "Grüße aus Hollywood". In "Die Waffen der Frau" spielen Melanie Griffith und Harrison Ford die Hauptrollen, bei "In Sachen Henry" schlüpft Harrison Ford in die Rolle eines skrupellosen Anwalt. Jack Nicholson wird in "Wolf - Das Tier im Manne" zum Werwolf.
Kommentator gesellschaftlicher Entwicklungen
Dann spielen Robin Williams und Gene Hackman die Hauptrollen in "The Birdcage". "Mit aller Macht" ist eine glänzende Satire, in der John Travolta einen schmierigen Politiker spielt, der stark an Bill Clinton erinnert. Mit "Angels in America" macht er ein viel beachtetes Bühnenstück zu einem Fernseh-Mehrteiler, der eine bittere Bilanz der 80er-Jahre zieht: Den gesellschaftlichen Stillstand der Reagan-Jahre verbindet er mit der Angst vor der neuen Krankheit Aids. Elf Emmys erhält die Miniserie.
Wie schon in "Die Reifeprüfung" sind es immer gesellschaftliche Stimmungen, die Nichols aufgreift. Oftmals mit einem kritischen Unterton: mal geht es um vertuschte Atomunfälle, mal um den gnadenlosen Konkurrenzkampf in einem Unternehmen. Es geht um Vorurteile gegenüber Homosexuelle und die verruchten Mechanismen des Politikbetriebs. Stets ist Nichols auf der Höhe der Zeit. Der Regisseur wird zum Kommentator gesellschaftlicher Entwicklungen und politischen Versagens. Er packt brisante Themen an und verpackt sie in unterhaltsamen Filme. So handelt selbst eine Klamotte wie "Good Vibrations" von einem Planeten, auf dem es keine Gefühle mehr gibt und man sich durch Klonen fortpflanzt.
Die Komödie ist einer der wenigen Filme von Nichols, die bei der Kritik komplett durchfallen. Beim Publikum landet er sowohl Hits als auch grandiose Flops. Vielleicht, weil er es den Zuschauern nicht immer leicht macht. Die Protagonisten seiner Filme sind moralisch ambivalent, der Ton nicht selten pessimistisch. Dass sich Nichols für seine Werke oft bei Büchern oder Theaterstücken bedient, verwundert kaum. Die 80er-Jahre werden von Action-Blockbustern bestimmt. Dagegen ist Nichols mit seinen Querschlägen eher ein Wegbereiter des Independent-Kinos der 90er-Jahre.
Waffen für die Taliban
Doch er dreht ohnehin nur selten, arbeitete dafür immer wieder am Theater. "Hautnah", sein vorletzter Film von 2004, zeigt eine Generation, die sich nicht festlegen will. Junge, schöne Menschen - Natalie Portman, Jude Law, Julia Roberts, Clive Owen - lassen sich treiben, beginnen Affären, beenden Beziehungen und suchen stets nach dem Sinn des Lebens. Es ist ein Film, der in gewisser Weise "Die Reifeprüfung" fortschreibt.
Mit seinem letzten Film zeigt sich Nichols dann wieder gewohnt politisch. "Der Krieg des Charlie Wilson" mit Tom Hanks und Julia Roberts kommt zu einer Zeit, als die USA Kriege in Afghanistan und dem Irak führen. Er erzählt die wahre Geschichte jenes titelgebenden Kongressabgeordneten, der in den 80er-Jahren fast im Alleingang die Bewaffnung der afghanischen Mudschaheddin durchsetzt. Die USA liefern Waffen, auch an jene Gruppen, die im neuen Jahrtausend Krieg gegen die USA führen.
Der Film, der einen heiteren Ton mit der bitteren Ironie der Geschichte verbindet, steht für den Stil eines Regisseurs, der sich stets seine kritische Stimme erhalten hat. Auch wenn ihm das Publikum nicht immer folgte: Kritik und Kollegen feierten ihn. Nichols ist einer der wenigen Menschen, der alle großen US-Entertainment-Preise gewinnen konnte, also Oscar, Emmy, Tony und Grammy Award. 2010 erhielt er schließlich noch den Preis für sein Lebenswerk des US-amerikanischen Filminstituts. Seine Stimme wird Hollywood fehlen.
Quelle: ntv.de