"Ausscheidungen aller Art" Die Pornifizierung des Sachbuchs
01.12.2014, 22:08 Uhr
Die "Pornifizierung des Alltags" mag nicht besonders schön sein, aber ist sie auch gefährlich?
(Foto: REUTERS)
Die nächste Generation ist eigentlich schon verloren, ertrunken in einem Meer aus Geschlechtsteilen - fürchtet zumindest die Autorin von "Porn Chic". Die einzige Erkenntnis des Lesers nach 300 Seiten: Italiener wollten in den 1920er-Jahren vor allem Sex mit Tieren sehen.
"Doppelpenetrationen, 'Ass-to-mouth' und Oralsex bis zum sprichwörtlichen Erbrechen." Für die PR-Abteilung von dtv muss die Ankündigung von Nicola Steffens neuestem Werk ein wahres Fest gewesen sein: So viel Sex auf so engem Raum, ohne selbst in die Schmuddelecke gedrängt zu werden, das gibt es selten. Mit seiner knalligen These und dem noch knalligeren Titel ist "Porn Chic: Die Pornifizierung des Alltags" ein marketingtechnischer Jackpot für den Verlag, Aufmerksamkeit garantiert.
Dabei lässt sich die Kernaussage des Buches auf einen recht unspektakulären Nenner bringen: Alles halb so wild, aber wir müssen aufpassen. Hätte die Autorin versucht, bei einem beliebigen anderen Thema die Relevanz dieses einen Satzes zu einem 300 Seiten starken Sachbuch aufzublähen, der Verlag hätte ihr wahrscheinlich den Vogel gezeigt. Aber hey, Sex geht immer - auch wenn man ihn eher von der kritischen Seite aus betrachtet.
Römische Knabenliebhaber und schmuddelige Inder
Wobei, das stimmt ja nun nicht ganz: Steffen stellt sich nicht gegen Geschlechtsverkehr im Allgemeinen, nur gegen die allumfassende "Pornifizierung" unseres Lebens und die etwaigen Konsequenzen, die daraus für unsere Gesellschaft entstehen. Es droht, kurz zusammengefasst, der Untergang der Zivilisation durch eine verrohte Jugend, wie seit Sokrates vor knapp 2500 Jahren in fast jeder Generation befürchtet.
Das Irritierende - und ein Fakt, den man Steffen letztlich zugutehalten muss - ist, dass sich die Autorin nach der wuchtigen Einleitung lang und breit selbst widerspricht. Über mehr als 100 Seiten erfährt der Leser, so er es nicht wusste, dass die Pornografie im Prinzip so alt wie die Menschheit selbst ist.
Nicht einmal von einer Radikalisierung der Sexualpraktiken in der heutigen Zeit ist die Rede, römische Knabenliebhaber und indische Kamasutra-Jünger haben schon seit Hunderten und Tausenden von Jahren die Grenzen der Sexualität erforscht. Aus der "Sittengeschichte des Kinos" von 1926 geht laut Steffen sogar hervor, dass Franzosen in ihren Schmuddelfilmchen auf "Ausscheidungen aller Art", Engländer auf Bondage und Erniedrigung und Italiener auf Inzest und Sex mit Tieren stehen - gute, alte Zeit.
Weniger Vergewaltigungen dank Pornos?
Menschliche Abgründe und ein Hang zum Fetisch sind also keine Erfindung des neuen Jahrtausends, sondern lauern irgendwo an den Schattenplätzen unserer Seele. Das Einzige, was sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert hat, ist die Verfügbarkeit von Pornografie aller Art, quasi ihre Demokratisierung dank Internet. Das dürfte den meisten Menschen auch ohne nähere Erklärung einleuchten - die Frage ist nur, was man aus dieser Erkenntnis macht. Man könnte eine Transferleistung erbringen und überlegen, ob die massiv gesunkenen Vergewaltigungsraten (in Deutschland wie auch in den Vereinigten Staaten) in Verbindung mit der Verfügbarkeit von abseitigem Pornomaterial stehen, wie der US-amerikanische Professor Anthony D'Amato vermutet - oder man wackelt mit dem erhobenen Zeigefinger und warnt vor dem Untergang des Abendlandes.
Steffen allerdings führt jede Betrachtung in welche Richtung auch immer ad absurdum, indem sie sich einfach zwischen alle Stühle setzt - so, als ob ihr aufgefallen wäre, dass ihre Thesen nur schwer oder gar nicht zu untermauern sind. "In Bezug auf die Kommerzialisierung und Sexualisierung sollte untersucht werden, ob es konkrete Anhaltspunkte gibt, dass Kinder durch die Kommerzialisierung und Sexualisierung Schaden nehmen und wie dieser Schaden entsteht", schreibt sie und distanziert sich damit gleichzeitig von dem bedrohlichen Bild, das sie vorher von der Entfremdung Jugendlicher von natürlicher Sexualität gezeichnet hat - es gibt nämlich schlicht keine Anhaltspunkte.
Am Ende muss Steffen eingestehen, dass nur wenige harte Fakten den knalligen Titel ihres Buches rechtfertigen. Und so lautet dann auch das Fazit, wenn auch nicht ihr eigenes: "Für viele Autoren ist Medienkompetenz ein besserer Ansatz als Zensur. […] Sie erweitert und vertieft das Wahrnehmungsvermögen, statt es einzuschränken, was angesichts der Bilderflut sowieso schier unmöglich ist." Jugendliche stark zu machen für den sicheren Umgang mit den neuen Medien, das wäre mal ein konstruktiver Appell - aber die "Pornifizierung des Alltags", wow, das klingt einfach besser.
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Quelle: ntv.de