San Francisco, Tokio, Marrakesch Die reisende Heldin Doris Dörrie
19.06.2022, 11:32 Uhr
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Stets reisend, zumindest vor der Pandemie: Doris Dörrie.
(Foto: Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa)
Das Jahr 2019 - im Nachhinein kommt es uns fast paradiesisch vor: Reisen, wohin man will, so lange wie man will, mit wem man will. Doris Dörrie tut genau das und lässt die Lesenden daran teilhaben, an ihren Erlebnissen, Erfahrungen, an ihrem Staunen. Dörries "Die Heldin reist" ist die ideale Reisebegleitung.
Wenn Doris Dörrie schreibt, dann ist jeder Satz ein Treffer. Wie diese hier: "Du bist eine Heldin", sage ich. "Nein", sagt sie, "ich hatte einfach nur Angst, dass ich sein Leiden nicht ertrage". Zwei Freundinnen, eine ist die Autorin selbst, treffen sich nach langer Zeit in San Francisco wieder, die Freundin ist vor Kurzem Witwe geworden. Dörrie sagt mit diesen zwei Sätzen alles, was gesagt werden muss, sie spricht - leider - aus Erfahrung.
Das Gute daran: Alle anderen können teilhaben an ihrem Wissen und daraus ihre eigenen Schlüsse ziehen. Auch, wenn sie davon schreibt, wie sie sich dann mit ihren Freundinnen, "drei weißen älteren Damen", am Strand von Kalifornien auszieht und den winterlichen Körper von der Sonne wärmen lässt: "(...) und wahrscheinlich vergleichen wir unsere Körper. Wir können nicht anders, wir haben den Vergleich von früh auf gelernt, es geschieht automatisch und ist schwer zu verlernen." Dörrie schreibt davon, wie sehr die Frauen ihre Weiblichkeit vergleichen und dabei doch nach den Kriterien ihrer Väter vorgehen: "Etwas schaffen, jemand werden, unabhängig sein, aufbrechen in unsere eigenen Abenteuer." Und das tut sie, sie bricht auf, immer wieder. Im Leben und in die Welt hinaus. Und geschafft hat sie viel.
Doris Dörrie kann erzählen, das wissen wir aus vielen Filmen. Dass sie auch schreiben kann, das wissen einige auch. Dieses Buch - "Die Heldin reist" - sei, zusammen mit "Leben Schreiben Atmen" all denen ans Herz gelegt, die offen sind für eine ganz wunderbare Art zu schreiben, für Informationen, für die Geschichten, die das Leben interessanter Personen so mit sich bringt. Bei Dörrie geht es um drei Reisen im Jahr 2019: Sie flog in die USA, nach Japan und nach Marokko. Es war ein Jahr, in dem Reisen noch leichter war, in dem Reisen nicht nur Urlaub war, sondern auch ein Kurztrip in ein Museum, zur Hochzeit von Freunden oder geschäftlich sein konnte, ohne dass man allzu schräg angeguckt wurde. Ein Jahr, in dem noch niemand vom Coronavirus gehört hatte, ein Jahr, das uns im Nachhinein fast paradiesisch vorkommt und wie das Ende einer Ära. Dörrie selbst schreibt, sie sei "immer unterwegs" gewesen, "selten mehr als drei Monate am Stück zu Hause."
Zen - nie leichter, nur anders
Stets reisend sah Dörrie sich selten als Touristin, viel mehr als eine, die unterwegs war, um eine bessere Version ihrer selbst zu finden, die auf Entdeckungen aus war, die lernen will, immer weiter lernen, und die es von ihren Eltern - die sie als "reisesüchtig" aufgrund ihrer Erfahrungen in Nazi-Deutschland beschreibt - so kannte und die das Reisen fast als Verpflichtung ansahen. Als Verpflichtung, der Welt zu zeigen, dass nicht alle Deutschen Schweine waren und die Kinder und Kindeskinder der Nazi-Zeit schon gar nicht. Dabei beschreibt sie auch, wie sie immer wieder aneckt, auffällt, aufgrund ihrer Größe, ihrer Blondheit, ihres Selbstbewusstseins. Vor allem in Ländern wie Japan und Marokko, wo Rollen viel klarer definiert sind und oft schlechter ausfallen für die Frauen, ist sie oft ein Fremdkörper, der sich doch aber zu gerne anpassen möchte. Und so lernt sie zu sprechen, zu gucken und zu denken wie die anderen, merkt manchmal erst spät, dass das übertrieben anbiedernd ist (typisch deutsch eben) und hätte dabei doch auf jeden Fall das nötige Standing, um von allen anderen kopiert zu werden, und nicht umgekehrt. Aber das ist eben auch wieder das Sympathische an Doris Dörrie: Sie nimmt sich einfach nicht so wichtig.
Wie sie in Andeutungen vom Verlust ihres ersten Mannes erzählt, wie sie ihr Kind erwähnt, ohne es auf einen Thron zu heben, wie sie beiläufig ihre besten Freundschaften beschreibt, bescheiden und wohl wissend, dass es nicht selbstverständlich ist, überall auf der Welt so gute Freunde zu haben, das ist großes Kino, anders kann man es im Falle dieser Autorin und Filmemacherin nicht sagen.
Das Buch liest sich leicht weg, ab und an hält man inne, weil etwas besonders schön beschrieben ist oder man sich eine Szene genauer vorstellen will: die große Doris Dörrie im Schneidersitz in einem winzigen japanischen Raum, mit einer Art Puppengeschirr bei der Teezeremonie zum Beispiel, und wie ihr auf der Suche nach "Zen" einfach nur die Knie wehtun, denn "Zen, das ist eine der vielen ernüchternden Einsichten, wird niemals leichter, nur anders".
Die jüngere Doris zweifelt ganz schön viel an sich, das kann man sich fast nicht vorstellen: "Ich bin sehr jung und trage ausschließlich amerikanische Second-Hand-Klamotten, die für mich fremd sind, weil ich keinerlei Erinnerung an Menschen habe, die sie einmal getragen haben", schreibt sie, von der Liebe eines Mannes, dem sie hinterhergerannt ist, der sie am ausgestreckten Arm verhungern ließ, der sie dann wieder nahe zu sich heranzog. "Ich heule mich durch die Tage und Nächte. Er ist einfach gegangen und hat mich an einem fremden Ort zurückgelassen. Wieder einmal. Ich rätsele, was ich falsch gemacht habe." "Nichts", möchte man ihr zurufen, "er ist einfach ein Idiot! Du musst ihn nicht verstehen und schon gar nicht auf ihn warten."
Die Heldin!
Kaum zu glauben, dass eine wie Doris Dörrie mal so unsicher war. Aber uneitel erzählt sie davon und tut nicht so, als wäre sie schon immer so gewesen, wie sie heute ist - oder was wir denken, wie sie ist. Das ist ihre große Kraft: Uns an ihrer Entwicklung teilhaben zu lassen. Und an diesem inneren Ort der Einsamkeit, der so deutlich zutage tritt, wenn man verlassen wird. Die Reisen, die Dörrie antritt - auch wenn das abgedroschen klingt - sind immer Reisen zu sich selbst.
Man kommt nicht als Heldin auf die Welt. Man kommt auch nicht als Held auf die Welt. Jungs wird nur früher schon davon erzählt, dass sie mal ein Held werden sollten, im besten Fall. Dank Dörrie werden wir in Zukunft viel mehr Heldinnen haben, die reisen, die die Welt entdecken und erobern. Und sich selbst als Heldin betrachten.
Quelle: ntv.de
