Die Geschichte des "ersten Amerika" Ein Kontinent auf der Suche
06.10.2010, 09:33 UhrDie Buchmesse feiert Argentinien und die 200-jährige Unabhängigkeit Lateinamerikas. Doch erst spät findet der Kontinent eine eigene Identität – Kolonialisten, unzählige Diktatoren oder die USA bestimmen die Geschicke teils bis heute. Gewalt und politische Instabilität sind die Folge.

Caudillos unter sich: Venezuelas Präsident Hugo Chávez vor einem Porträt des Unabhängigkeitshelden Simón Bolívar.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Inka und Maya, Konquistadoren und Sklavenhändler, Caudillos und Revolutionäre: Die Geschichte Lateinamerikas ist eine Historie voller Unruhe und Bewegung. Lange brauchte der Kontinent, um seine eigene Identität zu finden, zwischen indigenen Wurzeln, europäischen Eroberern und afrikanischen Sklaven. Stefan Rinke, Professor für die Geschichte Lateinamerikas an der Freien Universität Berlin, hat sich darangemacht, die Geschichte des Kontinents aufzuschreiben, von der ersten Besiedlung bis zur Globalisierung der letzten Jahre.
Das lateinische Amerika – ein Begriff, den die Franzosen als selbsternannter Schutzherr der romanischsprachigen Völker einführten – erstreckt sich von Feuerland bis in den Norden Mexikos. Rinke verzichtet jedoch darauf, einzelne Länder herauszugreifen, dafür bietet die Reihe Beck Wissen, in der die "Geschichte Lateinamerikas" erscheint, auch nicht genügend Raum. Stattdessen versucht er, Parallelentwicklungen aufzuzeigen. Denn Chile und Argentinien, Mexiko und Brasilien eint nicht nur die koloniale Last, seit Spanier und Portugiesen die Länder unterwarfen und plünderten. Einige der Länder haben seit der Unabhängigkeit vor gut 200 Jahren auch ähnliche Entwicklungen durchgemacht.
33 Regierungen in 33 Jahren
Nach Kapiteln über die indigenen Kulturen des Kontinents und die Entwicklung der Kolonialreiche wird deshalb die Darstellung der schwierigen Staatenbildung zum Herzstück des Buches. Rinke zeigt, warum sich die Länder der Region trotz erkämpfter Selbstständigkeit nicht aus den vielfältigen Abhängigkeiten befreien konnten. Das Machtvakuum, das Spanier und Portugiesen hinterließen, konnten die neuen Staatswesen nicht ausfüllen. Caudillos – militärische Anführer – ergriffen die Macht, begünstigt durch das Fehlen einer starken Zentralgewalt. Auch politische Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen arteten oft in blutigen Auseinandersetzungen aus.
Zwar entstanden Republiken, doch 115 Verfassungen in den 18 Staaten zeugen von extremer politischer Instabilität im 19. Jahrhundert. Immer wieder wurden sie während Diktaturen oder Bürgerkriegen außer Kraft gesetzt. Mexiko etwa erlebte in 33 Jahren 16 Präsidenten und 33 Übergangsregierungen. Vor allem aber blieb das soziale Problem ungelöst. Indigene Bevölkerung und Sklaven – immerhin die Mehrheit der Bevölkerung – blieben trotz anderslautender Verfassungen rechtlos. Wirtschaftlich löste man sich nur langsam vom einseitigen Export und begann eine zaghafte Industrialisierung. Noch bis in den Kalten Krieg hinein blieb Lateinamerika jedoch politisch ambivalent und von äußeren Einflüssen abhängig.
Was der Kontinent bis dahin versäumte, holt er heute nur langsam auf. Diese schwierige Entwicklung zeichnet Rinke in seiner 120-seitigen Darstellung nach. Die Darstellung ist prägnant, gut geschrieben und lässt heutige Ereignisse und Problemlagen besser verstehen. Dass hier und da Entwicklungen verkürzt sind, liegt am Charakter der Reihe. Deshalb fügt Rinke der Darstellung eine Liste mit weiterführender Literatur an. Auffallend wenig deutsche Werke sind darunter. Rinke selbst hat allerdings eine Lücke geschlossen: Seine Darstellung des Unabhängigkeitskampfes Lateinamerikas im 19. Jahrhundert, "Revolutionen in Lateinamerika", erschien bei C.H. Beck zu den diesjährigen Jubelfeiern anlässlich der 200-jährigen Unabhängigkeit.
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Quelle: ntv.de