Verdrängung tötet Geschichte als Familiendrama
04.06.2007, 09:00 UhrAlexandra Senfft ist Journalistin und Autorin, sie war UN-Pressesprecherin im Gaza-Streifen, sie ist Mutter, vielleicht mag sie Musik und gutes Essen, aber all das beschreibt nur das Offenbare am Leben Senffts. Nicht so offenbar ist die Tatsache, dass Senfft die Enkelin des SA-Manns Hanns Ludin ist. Und dieser Fakt liegt als Schatten auf Senffts Leben.
Am 9. Dezember 1947 wurde Hanns Elard Ludin in Bratislava als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichtet. Ludin war ein glühender Nationalsozialist. Bereits in der Weimarer Republik hatte er als Leutnant der Reichswehr für Hitler konspiriert. Nach der Machtergreifung diente er dem "Dritten Reich" als SA-Führer. 1941 schickte ihn Hitler als Gesandten in den "Schutzstaat" Slowakei. Der "Bevollmächtigte Minister des Großdeutschen Reiches" sollte dort die Interessen Berlins durchsetzen und vor allem an der "Endlösung" mitwirken. Das seiner Gesandtschaft unterstellte "Judenreferat" organisierte die Deportationen der Juden. Ludin stellte sich nach dem Krieg und wurde von den Amerikanern an die Tschechoslowakei ausgeliefert.
Belastendes Erbe
Wie sehr das Leben ihres Großvaters ihr eigenes bestimmt hat, kann man auch nach der Lektüre von Senffts Buch "Schweigen tut weh" nur ahnen. Die Autorin ist Jahrgang 1961, das heißt, sie hat den Großvater nie erlebt. Doch sie ist die Tochter von Erika Ludin, die als 14-Jährige als einziges der Ludin-Kinder von der Hinrichtung des Vaters erfuhr.
Und in der Familiengeschichte pflegen zunächst die Großmutter Erla und später die Mutter Erika den Mythos vom guten Nazi-Opa, der nicht gewusst habe, was die Nationalsozialisten mit den Juden vorhatten und welche Konsequenzen die von ihm unterzeichneten Deportationsbefehle hatten. Doch die Familie zahlt für diese Lügen einen hohen Preis.
Senfft schildert das Leben ihrer Mutter, einer außergewöhnlichen Frau aus dem linken Hamburger Nachkriegs-Establishment, die tragisch ums Leben kommt. Auf den ersten Blick sind Depression und Alkoholsucht die Ursachen für ihr Zerbrechen, doch bei genauerem Hinsehen fällt die ambivalente Vaterbeziehung auf.
Gespaltene Familie
Die unaussprechliche Wahrheit über seine Rolle bei der Ermordung der slowakischen Juden, die Unfähigkeit, um den Nazi-Vater zu trauern und die Folgen der tabuisierten Schuld halten die ganz Familie im Würgegriff. Jedes einzelne Mitglied muss seine Position dazu finden oder seine Methode der Verdrängung.
Senfft selbst kämpft sich in dem Buch durch Familienzeugnisse und das mit ihnen verbundene Schweigen. Immer wieder unterbricht sie ihre Beschreibungen durch psychologisch geleitete Reflexionen und entwirft auf diese Weise ein Sittengemälde ihrer eigenen wie vieler deutscher Familien. Denn die allgemeine historisch-politische Aufarbeitung ist nach Senffts Auffassung weit gediehen in Deutschland. Wie aber ist es mit den persönlichen Verstrickungen der eigenen Familie und den Nachbeben, die die alten Lügen im Leben vieler bis heute auslösen? Senfft hat das am eigenen Leib erfahren und plädiert deshalb für die Wahrheit, wie schmerzhaft die auch immer sei mag. Ein einfühlsames und wichtiges Buch.
Solveig Bach
Alexandra Senfft: "Schweigen tut weh. Eine deutsche Familiengeschichte.", Claassen Verlag 2007, 350 Seiten, 19,95 Euro
Quelle: ntv.de