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Heiratet ein Pater eine Transfrau ... John Irving schwelgt in der Welt der Wunder

Auch mit 74 ist John Irving noch lange nicht schreibmüde.

Auch mit 74 ist John Irving noch lange nicht schreibmüde.

(Foto: picture alliance / dpa)

Ob Klerus oder Jungfrau Maria: Die gesamte katholische Kirche kriegt in John Irvings "Straße der Wunder" ihr Fett weg. Selbst seine treue weibliche Leserschaft zieht Irving durch den Kakao – ohne an alte Glanzleistungen anknüpfen zu können.

"Frauen sind besonders enthusiastische Romanleserinnen", schreibt John Irving in seinem neuen Roman "Straße der Wunder". Der Autor weiß, wovon er spricht. Denn als er am Montagabend den großen Sendesaal des RBB in Berlin betritt, wird er vor allem vom weiblichen Publikum frenetisch gefeiert. Einige Damen reißt es bei seinem Eintreten glatt von den Stühlen. Standing Ovations für Irving, dem die Frauenherzen offenbar zu Füßen liegen.

Der 74-jährige Starautor stellt dort bei einer Lesung seinen neuesten Streich "Straße der Wunder" vor. Im Mittelpunkt dieser Geschichte eines sozialen Aufsteigers steht Juan Diego, ein Müllkippenkind aus Mexiko, das es aus dem Elend in die USA schafft und dort zum Schriftsteller von Weltrang reift. Als gealterter Mann blickt Juan Diego auf seine Kindheitserinnerungen voll wundersamer Begebenheiten zurück. Da gibt es zum einen seine Schwester Lupe, die Gedanken lesen und in die Zukunft blicken kann. Zum anderen dreht sich viel um eine Marienstatue, die zu weinen beginnt – und beide, Lupe und die Jungfrau Maria, sind letzten Endes dafür verantwortlich, dass Juan Diego aus Mexiko herauskommt.

Rundumschlag gegen die Kirche

Irvings Buch ist bei Diogenes erschienen und kostet 26 Euro.

Irvings Buch ist bei Diogenes erschienen und kostet 26 Euro.

(Foto: picture alliance / dpa)

Die Idee zu "Straße der Wunder" trieb Irving fast 40 Jahre lang um, wie er bei der Lesung in Berlin erzählt. Zunächst sollte es ein Drehbuch für einen Film werden, doch der Autor entschied sich anders. Denn die Darstellung von Juan Diegos Gegenwart und Vergangenheit, die sich gegenseitig bedingen, verschmelzen und voneinander abhängen, könne nur ein Roman leisten, betont Irving.

Und so springt "Straße der Wunder" munter zwischen Zeiten und Orten hin und her und bedient sich dabei allerlei Irvingscher Motive und Personenkonstellationen. Es gibt Prostituierte, Geister, Geschwisterliebe, furzende Hunde, Zirkus und natürlich auch Sex. Der gehört zu Irvings Werk wie das Amen in der Kirche; nicht ohne Grund. "Ich will die Menschen angreifen, die sich von Sex angegriffen fühlen", erklärt der Bestseller-Autor, der im puritanisch geprägten Neuengland aufgewachsen ist, in diesem Zusammenhang Moderator Jörg Thadeusz ganz ungeniert.

In seinem neuen Buch geht Irving sogar noch einen Schritt weiter und holt zu einem Rundumschlag gegen die katholische Kirche aus. Die Jungfrau wird zum "Monster Maria", Pilger zu verrückten Fanatikern und ein Jesuit zum Ehemann einer Transfrau. Der US-amerikanische Missionar Edward Bonshaw verliebt sich in Mexiko nämlich Hals über Kopf in Flor, eine Prostituierte, die früher ein Mann war. Sie sind es auch, die Juan Diego mit in die USA nehmen, ihn adoptieren und dem "Müllkippenleser" eine angemessene Ausbildung ermöglichen.

Viele Themen, wenig Tempo

Die gesamte Geschichte klingt irrwitzig und bizarr, was für John Irving nicht ungewöhnlich ist. Ungewöhnlich sind eher die schier endlosen inhaltlichen Wiederholungen, die den Roman unnötig in die Länge ziehen. Zudem wirkt "Straße der Wunder" thematisch etwas überladen. Von missglückten Abtreibungen über HIV bis hin zum Leben mit einer Behinderung: Die Tragik-Dichte ist immens. Doch diese Schicksale treiben Lesern nicht die Tränen in die Augen, weil sie dafür schlicht zu oberflächlich behandelt werden. Ganz im Gegenteil: Auch wegen dieser Fülle an Themen und Abschweifungen ist es schwer, am Ball zu bleiben und sich vollends auf die Geschichte einzulassen. Trotz John Irvings Witz und seinem Gespür für Situationskomik hätte "Straße der Wunder" etwas mehr Geradlinigkeit und ein knackigeres Erzähltempo nicht geschadet. Völlig zu Recht stellte Volker Weidermann im "Literarischen Quartett" fest, dass der Effekt von Juan Diegos Betablockern sehr schnell auf den Leser übergreift. Von John Irving erwartet man einfach mehr.

Seine wahren Fans wird diese Kritik wenig kümmern – obwohl er in dem Roman auch gegen sie schießt. Die Darstellung von Juan Diegos weiblichen Fans etwa ist eine Persiflage auf die Frauen, die hingebungsvoll seine Romane lesen, rührende Sätze in ihr Herz schließen und ihren Lieblingsautor wie einen Helden feiern. Obwohl Irving nach der Lesung klar zu verstehen gibt: "Mein Leben ist nicht Thema meiner Romane", wird er sich dabei sicherlich die eine oder andere eigene Erfahrung von der Seele geschrieben haben.

Auch wenn das Buch bei Weitem nicht die Finesse von "Hotel New Hampshire" oder "Gottes Werk und Teufels Beitrag" besitzt, feiern die Zuhörer John Irving im Großen Sendesaal mit großem Applaus, was zum einen an seiner Stellung als großer Romanautor unserer Zeit und zum anderen an dem Gespräch nach der eigentlichen Lesung liegt. Der Witz und Charme sowie die klare Kante und Direktheit, die er im Dialog mit dem Moderator unter Beweis stellt, hätten seiner "Straße der Wunder" sicherlich gutgetan.

"Straße der Wunder" als Buch oder als Hörbuch bei Amazon bestellen oder bei iTunes downloaden.

Quelle: ntv.de

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