Frische Biografien, eigenwillige Romane und mehr Lesen vor dem Kaminfeuer
21.11.2013, 08:25 Uhr
So geht November.
(Foto: Wandersmann / pixelio)
Da gibt es kein Deuteln, der Herbst neigt sich eindeutig dem Winter zu. Und wenn die Winterreifen erstmal aufgezogen sind, wird es auch Zeit, es sich zu Hause gemütlich zu machen. Also: Wolldecke durchwaschen, Tee, Wein und Kerzen besorgen und ab aufs Sofa. Den Bücherstapel bauen wir für Sie auf. Ist das ein Angebot?
Der überzeugende Outsider
"Nein, nein, so schön kann doch kein Mann sein … ", sang schon Gitte Haenning. Doch, doch, er kann! Er kann sogar wahnsinnig schön sein - auch wenn man das zu Männern ja nicht so sagt - und er hat diesen James-Dean-Blick, diesen verträumten Zug um den Mund und das Spitzbübische, das einen Mann so unwiderstehlich macht. Außerdem hat er einen Körper wie "Gephotoshopt". Leider hat überwiegend seine Freundin Eva Mendes etwas davon, denn andauernd reißt er sein T-Shirt wie in "Crazy Stupid Love" nicht gerade hoch. Ryan Gosling ist gerade erst 33 Jahre alt geworden - und schon eine Biografie? Ja, unbedingt, denn allein seine Rollenauswahl ist so bemerkenswert, dass es sich lohnt, darüber zu lesen. Außerdem gibt das Buch von Thorsten Wortmann viele schöne Fotos und ein paar Details her, die man so noch nicht kannte.
Mit "Inside a Skinhead" machte Gosling als 19-Jähriger zum ersten Mal auf sich aufmerksam. "Ich glaube, die Leute waren einfach müde und wollten nur noch irgendjemanden casten. Ich war als letzter an der Reihe und es lief ein wenig nach dem Motto: "Gebt ihm doch die Rolle". (…) Aus irgendeinem Grund war ich davon überzeugt, dass ich der Richtige für diese Rolle war - nicht, weil ich sie besser als alle andere spielen würde, sondern weil ich die Rolle mehr als alle anderen liebte." Das mag mit ein Grund sein, warum er in seinen Rollen, in denen er oft einen Outsider darstellt, so überzeugend rüberkommt. Wer also Ryan Gosling näher kennen lernen möchte, der sollte sich diese Biografie anschaffen – sie ist nicht allzu lang, kurzweilig geschrieben und sagt vieles über einen Mann, von dem wir noch viel hören werden. (soe)
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Die skurrile Welt des Wes Anderson
Die Filme von Wes Anderson sind eine ganz eigene Welt. Sie sind bevölkert von skurrilen Charakteren, von Außenseitern und Bill Murray. Sie sind angereichert mit liebevollen Details, gekonnt zusammengestellter Musik und viel subtilem Humor. Mit Streifen wie "Die Royal Tenenbaums", "Die Tiefseetaucher", "Der fantastische Mr. Fox" und zuletzt "Moonrise Kingdom" wurde Anderson zu einem der bekanntesten Independent-Regisseure der USA. Sein neuer Film "The Grand Budapest Hotel" wirft bereits seine Schatten voraus - er wird die Berlinale im kommenden Februar eröffnen. Und kürzlich veröffentlichte er dann auch noch einen amüsanten, vom Modelabel Prada produzierten Kurzfilm.
Das ist eine gute Gelegenheit, noch einmal zurückzuschauen auf Andersons Filme. "The Wes Anderson Collection" macht das auf großartige Weise. Der dicke Wälzer, der bisher nur auf Englisch erhältlich ist, lässt seine bisherigen Filme Revue passieren. Zu sehen gibt es sehr viele Fotos von den Dreharbeiten, Skizzen und Grafiken aus der Vorproduktion, Details aus dem Szenenbild, aber auch Bilder aus Filmen, die Anderson beeinflusst haben und Illustrationen von Max Dalton (der auch das Cover gestaltete). Daneben sind lange Interviews mit Anderson zu allen seinen Filmen abgedruckt. Das detailreiche und liebevoll gestaltete Werk ist eine Mischung aus Fanbuch, einem Blick hinter die Kulissen und filmwissenschaftlicher Analyse - und zu diesem Preis ein Muss für Filmfreaks. Einen ersten Einblick gibt es hier. (mli)
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Zwischen Himmel und Hölle
Liebes Tagebuch,
heute hat "E" mich mal wieder zur Weißglut gebracht. Ehrlich, ich liebe diese Frau, aber sie ist auch eine Irre … " Mist, mein Bleistift ist schon wieder abgebrochen, wo hab‘ ich nur einen Anspitzer. In diesem Haushalt findet man nichts. Aber Mensch, da ist ja meine Rolex, die ich so lange gesucht habe, ich dachte schon, sie hätte sie wieder verscherbelt …" So oder so ähnlich sah es vielleicht aus, als Richard Burton sich des Abends über sein Tagebuch beugte und aufschrieb, was ihm so durch den Kopf ging. Dass er nicht nur ein toller Schauspieler, grandioser Lebemann und eben zwei Mal der Ehemann von Elizabeth Taylor, sondern auch ein witziger, kluger, reflektierender Mensch zwischen Himmel und Hölle war, zeigt sich in seinen Tagebüchern von 1965 bis 1972.
Galt er oft als Haudegen und etwas grober Klotz, beweisen seine Aufzeichnungen, dass er sehr viel feiner, klüger und warmherziger war, als man ihm, dem Alkohol zugeneigten, für seine Wutausbrüche und für seine verzehrende Liebe zu seiner Frau bekannten Waliser zutraut. "Ich zittere heute nicht. Gestern habe ich den Film 'Becket' gesehen. Ich war durchschaubar und schlecht. Ich habe Elizabeth sagen hören, ich wäre ein Langweiler. Recht hat sie. Wenn ich betrunken bin." Das klingt nicht nach einem Mann, der sieben Mal für den Oscar nominiert war, das klingt nach Melancholie und Einsicht, verbunden mit der Tatsache, dass es nicht leicht ist, sich in den Griff zu bekommen. "Nicht zur Arbeit gegangen. Bin spät aufgewacht und habe mich so sehr geschämt, dass ich lieber gar nicht erschienen bin, als zu spät. War also nicht am Set. E. rief an und sagte, ich sei schrecklich krank." Durch seine schonungslosen Aufzeichnungen, seinen harten Ton sich selbst gegenüber und seine genaue Beobachtungsgabe lernen wir Elizabeth und Richard kennen, ein Paar, das weitaus weniger glamourös war, als es die Fotos oft weismachen wollten. "Nur um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Dieses Tagebuch dient ausschließlich meiner eigenen Erheiterung", schreibt er im Oktober 1966. Wie Unrecht er damit hatte! (soe)
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Die Geschichte vor DSK
Anne Sinclair ist eine der wichtigsten Journalistinnen Frankreichs, eine Tatsache, die kurzzeitig in Vergessenheit gerät, als sie nur noch als Ehefrau des über eine Sexaffäre gestürzten früheren IWF-Chefs Dominique Strauss-Kahn wahrgenommen wird. Als Folge der Vergewaltigungsvorwürfe braucht DSK ihre Unterstützung für eine mögliche Präsidentschaftskandidatur nicht und auch die Ehe geht in die Brüche. Für Sinclair der Moment, die Kisten zu öffnen, in die sie nach dem Tod ihrer Mutter Briefe, Akten, Familienfotos, Schlüsselbunde und noch viel mehr Dinge gestopft hat. Für Anne Schwartz, genannt Sinclair, wie es in ihrer Geburtsurkunde steht, beginnt damit die Annäherung an ihren Großvater, den legendären Kunsthändler Paul Rosenberg.
Rosenberg, ein französischer Jude, war ein leidenschaftlicher Verfechter moderner Malerei. In seiner Galerie in der Pariser Rue la Boétie hingen Ende der 1930er Jahre Bilder von Courbet, Cézanne, Manet, Degas, Monet, Renoir, Gaugin, Lautrec, Picasso und Braque. Mit seinem visionären Blick auf die Arbeit all dieser Künstler kollidierte Rosenberg mit den nationalsozialistischen Auffassungen "entarteter Kunst". Die Familie wurde vertrieben, Bilder gestohlen, Rosenberg gelang beinahe in letzter Minute die Flucht aus Frankreich. Beim Anfang November publik gewordenen sensationellen Nazi-Raubkunstfund in der Münchener Wohnung des betagten Cornelius Gurlitt wurden auch Bilder gefunden, die ihm gehört haben sollen. Sinclair folgt Rosenbergs Lebensstationen, sucht Orte auf, wo ihr Großvater versuchte, seine Leidenschaft auch unter schwierigsten Bedingungen weiter zu verfolgen. Ein berührendes Familienporträt voller spannender Details aus dem Arbeitsalltag einiger der größten Künstler des vergangenen Jahrhunderts. (sba)
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Hingesehen und aufgeschrieben
"Wir haben das alles nicht gewusst", haben viele Deutsche gesagt, als nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Völkermord an den Juden nicht mehr zu leugnen war. Doch es gab auch andere. Menschen wie den Heeresrichter Werner Otto Müller-Hill, der vom 27. März 1944 bis zum 7. Juni 1945 aufschrieb, was nicht zu übersehen war. Müller-Hill war Jahrgang 1885 und hatte bereits den Ersten Weltkrieg erlebt. Kurz vor seinem 60. Geburtstag muss er als Reserveoffizier noch einmal Militärdienst als Heeresrichter leisten. Doch er beteiligt sich nicht an der Verhängung von Terrorurteilen, sondern versucht, die angeklagten Soldaten zu schützen.
Und er informiert sich, verfolgt aufmerksam die Entwicklung der militärischen Lage. Er liest NS-Zeitungen, Wehrmachtsberichte, er hört ausländische Sender. Schon zu Beginn seiner Aufzeichnungen schreibt er: "All dies ist für einen denkenden Menschen derart hoffnungslos, dass man sich wundern muss, noch immer im Stabe Kameraden zu treffen, die auch bei vertraulichem Gespräch von einem nicht nur möglichen, sondern sicheren Sieg sprechen." Müller-Hill ist bewusst, dass seine Notizen bereits als "Wehrkraftzersetzung" gewertet werden können. Aber die offensichtliche Wahrheit muss er aufschreiben. "Wir haben sie (die Juden) – was kein Dementi der Welt verleugnen kann – zu Hunderttausenden ermordet." Ein in seiner Schlichtheit und Aufrichtigkeit bewegendes Zeitzeugnis. (sba)
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Die andere Familiengeschichte
Ein glückliches Paar, während der Olympischen Spiele 1972 in München fotografiert. Der Mann auf dem Foto ist Elisabeths Vater und die Frau die Mutter ihres Bruders, von dem sie bis zu diesem Tag nicht einmal wusste, dass er existiert. Dieser Bruder fragt nun nach dem gemeinsamen Vater und rührt damit an gut verdrängte Erinnerungen. Der Vater, der als Kind in den Zeitläuften verloren gegangen war, eine Weile Halt in seiner Militärkarriere fand, um dann am Ende doch den Kampf gegen den Alkohol zu verlieren.
Elisabeth kann nicht einfach eine Festplatte zücken, um auf ihre Erinnerungen zuzugreifen. Doch der Bruder hat ein Recht auf das ganze Bild. Sie muss an die Lebensorte des Vaters, auch in die frühere DDR. Sie lässt ihren Mann Holger zurück, plötzlich fühlen sich das geordnete und erfolgreiche Leben an seiner Seite und die Arbeit am Theater nicht mehr richtig an. Irgendwie ist mit dem Foto alles fragwürdig geworden. Am Ende dieser absurden Reise erwartet Elisabeth ein Kind und kehrt zu Holger zurück, dankbar für das Auftauchen des Bruders. Ein eigenwilliger Roman über Familiengeschichte und Sucht, Liebe und innere Freiheit. (sba)
Hinter der Fassade
"Ach Mama, alles habe ich von dir. Du bist mein dunkler Zwilling". Annie Veit wächst in einem thüringischen Dorf auf. Peinliche Dorffeste, erste Knutschereien mit dem Jungen mit dem Moped, was man halt so von einer Dorfjugend erwartet. Doch jede Menge Geheimnisse umgeben die 14-Jährige. Und sie hat selbst auch eines. Sie ist verliebt Jan Pajak, den Mann, den einst ihre schöne Mutter begehrte. Auf seinem abgelegenen, geheimnisvollen Hof Brandstatt entwickelt sich etwas, das man als Kindesmissbrauch hätte deuten könnte, hätte sich Annie damals noch als Kind empfunden und verhalten. Als ein anderes junges Mädchen verschwindet, wird Pajak förmlich aus dem Dorf gejagt. Viele Jahre, eine missglückte Beziehung und eine psychische Erkrankung später treffen die inzwischen erwachsene Annie und Jan wieder aufeinander. Wird Annie nun alle Rätsel lösen können? Und ist das überhaupt noch von Belang?
Der Debütroman von Anousch Müller ist auf mehreren Zeitebenen aufgebaut, die nach und nach aufgedeckt werden, wie die Schichten einer Zwiebel. Ob es einen Kern gibt oder nicht, ist am Ende egal – denn Geheimnisse, die erst nach Jahren aufgedeckt werden, verlieren an Bedeutung, auch für Annie. Um sich von der Vergangenheit zu befreien, muss man sie nicht verstehen. Die beklemmende Enge einer Jugend, eines Lebens in der Provinz, dieses Gegenteil von Idylle, sind auch die Schauplätze von Romanen von Jenny Erpenbeck ("Heimsuchung") oder Jan Brandt ("Gegen die Welt"). Mit "Brandstatt" reiht sich Anousch Müller hier ein. (sla)
Ein Road-Trip zum Weltuntergang
Das Gute an schwarzen "König Jesus Kehrt Zurück!"-T-Shirts ist, dass sie auf Reisen äußerst praktisch sind, wenn es darum geht, Schweiß-, Senf- und Blutflecken zu verstecken. Findet jedenfalls Jess. Die 14-Jährige ist zusammen mit ihren Eltern und ihrer 17-jährigen Schwester Elise unterwegs von Alabama durch Texas nach Kalifornien, um dort die zweite Wiederkunft des Erretters, Herrn Jesus Christus, in der Pazifischen Zeitzone zu bezeugen. Auf dem Weg versuchen ihre Eltern noch einige Menschen zu bekehren, damit ihnen auch die Entrückung zu teil wird. Die Mädchen auf den Rücksitzen beschäftigen sich mit weitaus irdischeren Problemen. Elise mit ihrer heimlichen Schwangerschaft und Jess mit der wachsenden Anziehungskraft, die selbst grässliche Jungs auf sie haben. Und mit ihrer Süßigkeiten- und Fastfood-Sucht, die dazu führt, dass sie einfach niemals so schön in dem "Jesus Kehrt Zurück"-Shirt aussehen wird, wie ihre Schwester, die die "Uniform" wie keine Zweite mit einer knappen Jeans-Short aufzupeppen weiß. Und so reist die Familie immer weiter, über Highways, von einem Motel zum nächsten, von Taco Bell zu Burger King ins Waffle House, dem Weltuntergang entgegen. Doch was ist, wenn der Eintritt in die himmlischen Sphären ausfällt?
"Süßer König Jesus" ist der erste Roman von Mary Miller, die bereits mehrfach für ihre Kurzgeschichten ausgezeichnet wurde. Miller nimmt die Leser mit ins Herz von Amerika, wo es auf den ersten Blick genau so zu geht, wie man sich das vorstellt. Fast-Food-Ketten, Übergewicht, Bibeln und nicht zuletzt Keuschheitsringe, die geradezu lächerlich wirkungslos gegen Teenager-Sex sind. Doch auch wenn White Trash das erste sein mag, was dem Leser in den Sinn kommt, führt die 1977 in Texas geborene Autorin ihre Romanfiguren nicht vor. Ihre Jess ist wie wohl alle Teenager auf der Welt gefangen zwischen widerstreitenden Gefühlen. Zwischen Abscheu vor der ganzen Lebensweise ihrer Eltern und Anfällen unbändiger Zuneigung zu ihnen. Zwischen Neid auf die Schwester und dem Wunsch, der drei Jahre Älteren zu gefallen. In einem Moment fragt sich Jess, wie wohl der Himmel aussehen wird und ob der Familienhund Cole dort auch ein Platz hat, um kurze Zeit später mit unbestechlicher Klarheit zu erkennen, das dieser Trip nur dazu dient, von der Arbeitslosigkeit des Vaters abzulenken. Und zu wissen, dass die strapazierte Familienkreditkarte eben keinen himmlischen Ausgleich finden wird. Fundamental-christlich oder nicht. Mit Geld oder ohne. Dick oder dünn. Mary Miller zeigt, wie ähnlich sich der Kern des Gebildes namens Familie immer ist. Und sorgt nebenbei dafür, dass man von Fast Food und Süßigkeiten erstmal genug hat. (sla)
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Wie gut kennst du deine Liebe?
Zugegeben: Ich habe mich verführen lassen. Auf dem Flughafen Köln lagen ungefähr 200 Bücher in der Auslage, das sah beeindruckend aus. Und auch das Cover – schwarz, klar, kurzer Titel – reizte mich. Ich hatte schon zu viel Gepäck, sollte ich tatsächlich noch so einen Schinken kaufen? Ein kurzer Blick auf den Klappentext sagte mir: "Ja, du sollst diesen Schinken kaufen", und schon lag er in meiner ohnehin vollen Handtasche. Alles, was bisher zu dem Buch gesagt wurde, stimmt: "Brillant, bitterböse, geistreich, messerscharf, atemberaubend, verstörend." Und doch, oder gerade deshalb ist es nicht ganz so einfach, mit dem Buch dann warm zu werden. Das liegt an den beiden Protagonisten Amy und Nick, aus deren Perspektive abwechselnd in Ich-Form erzählt wird. Das macht Spaß, denn es gibt viele Einsichten. So richtig mögen kann man keinen der beiden, und das macht die Sache am Anfang dann auch etwas schwer: Mit wem möchte ich mich identifizieren? Eine Szenerie voller Psychopathen, dabei könnten sie es doch so schön haben.
Aber je mehr man liest, desto mehr fängt einen die Handlung. Die Geschichte eines Paares, in Rückblicken und der Gegenwart, rabenschwarz wie das Cover – wie kann eine junge Autorin nur auf so verquere Storys kommen? Und wie gut kennen wir den Menschen, der da neben uns im Bett liegt? Gillian Flynn schickt uns auf eine Reise in unser Inneres, denn sie lässt uns hinterfragen, worauf wir zählen können und ob wir unserem Bauchgefühl vertrauen dürfen. Gruselig nicht im Sinne von blutig, sondern gruselig im Sinne von: Was lächelt mein Schatz mich von da drüben am Kamin so zuckersüß an? Ist das ernst gemeint? Oder hat er was zu verbergen? Herrlich schreckliche Lektüre. Und: Unbedingt lesen, bevor "Gone Girl" ins Kino kommt, Ben Affleck hat sich bereits die Rechte gesichert. Und auch, wenn er einen ganz passablen Nick abgeben könnte, ist die eigene Fantasie doch noch viel gruseliger als Ben Affleck. (soe)
Mörderische Kunst
"Meine Mutter hat wieder versucht sich umzubringen". Klick auf den Auslöser. Das erste Bild der Reihe "Almost an orphan" ist fertig. Sasha ist Künstlerin, Tochter einer suizidalen Mutter, und selbst Mutter einer kleinen Tochter, die sie liebt, aber zu deren Welt sie überhaupt keine Verbindung aufbauen kann. "Meine Mutter hat versucht, sich zu erhängen, ertränken, erschießen" – in immer neuen Varianten schockiert Sasha Freunde und Bekannte, das hervorgerufene Entsetzen ist Teil ihrer Kunst. Kunst ist auch, was sie mit Jannis verbindet. Der Theaterautor wird der Vater ihrer Tochter Lizzy, trennt sich aber niemals wirklich von seiner langjährigen Freundin, der Schauspielerin Sophia. Die hat wiederum eine Daueraffäre mit Tim, dem besten Freund und Galeristen Sashas. Doch ist es alleine die unheilvolle Ménage à quatre, die Sasha immer radikaler in ihrer Kunst werden lässt? Oder ist das die Folge der traumatischen Kindheit mit einer depressiven Mutter? Sind es die Drogen, die die junge Frau zur Mörderin machen? Oder ist hier ein Mensch einfach nur konsequent auf einem Weg ohne Umkehr?
Faszinierend, grauenhaft, amüsant, brutal, intelligent. Es gibt viele Adjektive, mit denen man den Roman "Gefährliche Arten" beschreiben könnte, und sie alle stimmen. Mit Sasha hat Svealena Kutschke eine Romanfigur erschaffen, die auf verstörende Weise sympathisch ist. Denn kann eine Frau sympathisch sein, die ihr Kind in Lebensgefahr bringt? Die immer gewalttätiger wird? Die zur Serienmörderin wird? Sie kann. Denn hier wird nicht das Böse in herkömmlicher Gestalt gezeichnet, nein, hier ist eine Person, die sich gleichermaßen traumwandlerisch und mit bewundernswert scharfer Intelligenz völlig unkontrolliert durch die Welt bewegt. Sorgfältig seziert die 1977 geborene Autorin zudem die Kunst- und Intellektuellenszene Berlins. Etwa die in diesen Kreisen gepflegte ironische Distanz, was die Kunst, das Leben und nicht zuletzt die Beziehungen angeht. Eine Distanz, die schon selbst Ironie hervorruft. Es ist nur allzu gut vorstellbar, dass Sashas grausame Kunst hier einen Markt finden würde. Wer die inflationäre Ironie von Rehgeweihen in Hipster-Bars über hat, wer Romane wie "Was ich liebte" von Siri Hustvedt mochte, wer Lust hat, knapp 200 Seiten atemlos in einem Zug zu lesen, um noch Tage später von Sätzen wie "Der Chor hat die Pest" verfolgt zu werden, der sollte "Gefährliche Arten" unbedingt lesen. Ob das Ende versöhnlich ist, wie der Klappentext verspricht, muss jeder Leser selbst entscheiden. Die Konsequenz, mit der Kutschke Sashas Geschichte zu Ende gedacht hat, bleibt in jedem Fall im Gedächtnis. (sla)
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Was macht der Fußballfan im Winter?
Ah, der Herbst: Die Blätter fallen, werden zu Matsch, der leichte Niesel zu Dauerregen. Der Besuch im Fußballstadion kann da schon einmal Überwindung kosten. Und nach dem Herbst folgt ja auch schon der Winter, mitsamt Schnee, Eis und Kleidungsschichten, über die das Trikot des Lieblingsvereins kaum drüber passt. Was tun? Sich im Sessel zurücklehnen, zum Bildband "Wenn Spieltag ist" greifen - und in Erinnerungen schwelgen: Da wären Choreos der Ultras beispielsweise, die lachenden Gesichter der siegestrunkenen Fans, die Banner und Bengalos. Auf rund 400 Fotos zeichnet der im Verlag "Die Werkstatt" erschiene Band die Geschichte der Bundesliga-Fans nach. 50 Jahre Fußball-Fantum. Der Wandel von den männlichen Normalos über die Kuttenträger bis zum neudeutschen und meist verhassten Eventfan. Das Gute an dem Bildband: Für jeden Fan ist etwas dabei, weil nahezu jeder Verein vertreten ist. Sollte er nicht dabei sein, heißt es dann doch: Raus aus dem Sessel, dicke wetterfeste Klamotten an, den Schal drum und ab ins Stadion deiner Wahl. Frei nach dem Motto: Hier bist du Fan, hier darfst du's sein! (bad)
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Kurbeln und kämpfen
Einer ganz anderen Leidenschaft frönen Michael Hausberger und Jürgen Gruber. Ihr Motto lautet: Kurbeln - je länger, je lieber! Kurbeln? Jawohl, die beiden sind Radsportbegeisterte, die extremen Langstreckenrennen verfallen sind. Für Otto-Normal-Radler klingt das nach Schmerzen, ja Selbstmord. Für die beiden ist es Spaß. Das beweist auch ihr bei Delius Klasing erschienenes Buch "It’s all about ... Ultracycling". Darin porträtieren sie nicht nur die extremsten Langstreckendistanzrennen der Welt, wie beispielsweise das "Race across America", sondern auch einige der Fahrer - wie etwa den Deutschen Andreas Niedrig oder den Österreicher Edi Fuchs. Es geht um die Typen und ihre Ziele. Es geht aber auch um Überwindung und den Kampf Mann gegen Mann gegen inneren Schweinehund. Das ganze präsentiert der Band in wunderschönen und mitreißenden Fotografien. Bilder, nach deren Anblick der Betrachter entweder sofort aufs Rad steigen oder es am liebsten in der dunkelsten Ecke des Kellers für immer vergessen will. "It’s all about ... Ultracycling" ist Emotion und Leidenschaft pur! (bad)
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Um Leidenschaft und Willen geht es auch in "Das Land der zweiten Chance" von Tim Lewis, erschienen bei Covadonga. Covadonga? Richtig, es geht wieder um Radsport. Genauer um ein Radsportteam und seine erstaunliche, mitreißende, inspirierende Geschichte - eine absolut wahre Begebenheit. Das Radsportteam kommt aus Ruanda. Ruanda? Ja, das Land, in dem binnen weniger Monate in einem Bürgerkrieg fast eine Million Menschen gestorben sind. Das war 1994. Aber auch fast zwei Jahrzehnte später kämpfen das Land und seine Bürger noch mit den Folgen der düsteren Vergangenheit. Das Lebensmotto: Die Hoffnung stirbt zuletzt - und Träume können wahr werden. Wie der von Adrien Niyonshuti. Er ist bereits glücklich, als er mit 19 Jahren ein Mountainbike besitzt. Aber sein Ziel heißt Olympia. Dort will er teilnehmen, dort will er sein Rennen fahren - und das Ziel erreichen. Niyonshuti ist nur ein Teil des ruandischen Radsportteams. Aber seine Geschichte und die der Mannschaft ist auch die eines gesamten Landes. Das macht das Buch lesenswert, Gänsehaut ist garantiert. (bad)
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Von der Liebe zu Autos
Die dürfte auch bei so manchem Mitglied eines Renault-Clubs hierzulande garantiert sein, wenn sie das Buch "Der Patron" in die Hände bekommen. Es ist der erste Teil einer Serie mit dem Titel "Mythos Renault", die im Bar Verlag erscheint. "Der Patron" schildert überaus detailgetreu das Leben und Wirken des legendären Autokonstrukteurs und Konzerngründers Louis Renault (1877-1944). Den Autoren Andreas Gaubatz und Jan Erhartitsch gelingt es, ein Porträt eines von klein auf technikbesessenen Genies zu entwerfen, der seiner Zeit oft voraus schien. Seiner Liebe zu Kleinwagen, "voiturette", ist das Unternehmen bis heute treu geblieben. Aber dazu mehr in den folgenden Bänden. Einziges Manko des überaus interessanten Buches: Auf den rund 380 Seiten gibt es keine Bilder. (bad)
Die Tiefen des Ozeans - in 3D
Jim Curious ist ein wackerer Mann. Mutig steigt er in seinen Taucheranzug und startet eine Reise durch die Tiefen des Ozeans. Er erkundet ein Korallenriff, schwimmt mit Fischen und einem Wal, entdeckt ein gesunkenes Flugzeug und ein altes Piratenschiff mit einem Schatz. Doch all das ist ihm nicht genug. Jim will immer weiter, immer tiefer, bis er schließlich den Grund des Ozeans erreicht und eine Überraschung erlebt. Gebannt verfolgt der Leser Jims Abenteuer - in 3D. Denn "Jim Curious" von Matthias Picard, erschienen bei Reprodukt, ist ein 3D-Comic.
Zwei 3D-Brillen (aus Pappe) liegen dem edlen Hardcover bei. Das ist eine fabelhafte Idee, denn es ermöglicht die gemeinsame Entdeckungsreise - etwa mit einem Kind. Die 3D-Effekte sind überaus gelungen, sie wirken plastisch und überzeugend (wobei man durch Bewegung der Seiten noch zusätzliche Effekte erzielen kann). In den oft großformatigen, in Schwarz-Weiß gehaltenen Bildern gibt es viele Details zu entdecken. Daneben überzeugt der Band aber auch inhaltlich und bietet Denkansätze etwa über die Vermüllung der Meere. Eine große Handlung gibt es zwar nicht, es gibt auch keinen Text, doch Picard webt immer wieder narrative Elemente ein, die die Spannung erhalten. Die geschickte Verwendung von Schwarz in der Meerestiefe erzeugt zudem viel Atmosphäre. "Jim Curious" ist eine rundum zu empfehlende Lektüre, die die anaglyphe 3D-Technik gekonnt wiederbelebt. Eine Leseprobe gibt es hier. (mli)
Quelle: ntv.de