Buchmessenland Neuseeland Vielstimmige Geschichten ohne Surfer
10.10.2012, 08:34 UhrViele Schafe, wenig Menschen. Kiwis und Surfer. Das ist Neuseeland in seinen Klischees, doch die Wirklichkeit des Inselstaats im Pazifik ist spannender als ein Reiseführer. Sichtbar wird ein Land, das zwischen Maori-Tradition und Moderne, zwischen Schicksalsergebenheit und Aufbegehren höchst facettenreiche Geschichten zu erzählen hat.
Auf eine lange literarische Tradition kann Neuseeland nicht zurückblicken: Das erste Buch wurde 1830 veröffentlicht, der erste Roman gar erst vor 150 Jahren. Die einheimische Verlagsszene ist noch immer überschaubar, neuseeländische Autoren kann kaum jemand nennen. Doch der beweist, dass das Verhältnis von 50 Millionen Schafen zu 4,4 Millionen Menschen den Geschichtenerzählern nicht unbedingt abträglich ist.
Eine Sammlung von Short Storys aus Neuseeland hat dtv unter dem ein wenig beliebigen Titel "Ein anderes Land" vorgelegt. Doch in dem Paperback verbirgt sich durchaus Lesenswertes.
Verletzen, Sterben, Waschen
Aus der Liste der 18 Autoren kennt man vielleicht Keri Hulme, die 1985 für ihren Roman "Unter dem Tagmond" den Booker Prize gewonnen hatte. In der Sammlung ist sie mit "Haken und Fühler" aus dem Jahr 1976 vertreten. Ein Paar wartet darauf, dass der Sohn aus dem Krankenhaus kommt. Er hat sich die Hand in der Autotür geklemmt, es musste amputiert werden. Eltern und Sohn sind wütend und traurig, verzweifelt und hilflos, fast scheint es, als können sie ihr Leben nun nicht weiterleben. Und als sie es gerade lernen, bekommt die Mutter Krebs. Keine 20 Seiten ist Hulmes Geschichte lang und dennoch so dicht, dass es kaum möglich ist, unberührt zu bleiben.
Joy Cowley hat sich in Neuseeland vor allem einen Namen als Kinder- und Jugendbuchautorin gemacht. In "Seide" erzählt sie die Geschichte eines alten Ehepaars, der Mann liegt im Sterben. Seine pragmatische Frau denkt über seine letzte Ausstattung nach und entscheidet, ihm einen Schlafanzug aus einem Seidenstoff zu nähen, den er ihr vor Jahrzehnten von einer weiten Reise mitgebracht hat. Der Mann wehrt sich zunächst dagegen, dass ausgerechnet dieser Stoff nun für ihn verwendet werden soll. Doch Mrs Blackie setzt sich durch, sie muss sich beeilen. Ihr Mann drängt und kann am Ende die kühle Seide auf seiner Haut spüren und sich dem Ort entgegenträumen, an dem vor langer Zeit die Seide gewebt wurde.
Die jüngste Geschichte ist erst 2011 entstanden. Kirsten McDougall beschreibt in "Saubere Hände" eine Mutter, die mit zwei kleinen Kindern vom Einkaufen kommt. Ermattet nach einer Woche Durchfall und Erbrechen hätte sie gern, dass die Kinder Hände waschen, bevor sie Kekse essen. Im Auto spielt sich die Hölle des täglichen Erziehungswahnsinns in beachtlicher Lautstärke ab. Endlich sind die Kinder in die vorgeschriebenen Sitze gefesselt, die Mutter kann losfahren. Sie wählt den Weg am Meer entlang und plötzlich senkt sich ein geheimnisvoller Frieden über die drei. Sie teilen einen Moment, kommen ins Gespräch und essen die Kekse.
Einladung ins Unbekannte
Neuseeland ist in diesen Geschichten weder sauber noch grün, Schafe, Kiwis und Surfer kommen nicht vor. Im Vorwort heißt es dazu: "Wenn Short Storys mit Fotos gleichzusetzen sind, dann sind die aus Neuseeland stammenden nicht etwa Landschaftsaufnahmen, sondern eher Schnappschüsse von Personen." Der Autor Damien Wilkins sieht jedoch vor allem jene Bilder, "die man gewöhnlich aussortiert".
Es sind Gesichter und Geschichten zwischen Sehnsucht und Scheitern, sehr real und dennoch dem magischen Erbe der mündlichen Überlieferungen der Maori verpflichtet. Zu entdecken gibt es eine facettenreiche Gesellschaft, die vielen Stimmen spricht. Manchmal verhalten und ein bisschen ratlos, dann wieder überschwänglich und leidenschaftlich, aber sehr lesenswert.
Quelle: ntv.de