Aus der Schmoll-Ecke Bäcker beweisen, dass Deutschland noch nicht verloren ist


Ach, der Bäckerbon, auch eine Aufregung, die längst vergessen ist.
(Foto: picture alliance/dpa)
Es geht den Bach runter. Der führt dafür wieder mehr Wasser. Aber den Deutschen kann man es eh nicht recht machen, gemosert wird immer. Erinnern Sie sich noch an den Streit über die Einführung der Bon-Pflicht in kleinen Läden? Daran gingen die Bäcker nicht zugrunde. Dicht machen trotzdem viele.
Ist das nicht schön? Die Wünsche, die mich kurz vor, an und nach Silvester serienweise erreicht haben, ein "gesundes neues Jahr" zu haben, sind schon in Erfüllung gegangen: Ich bin gesund. Und neu ist das Jahr auch. Wenn das so weitergeht, wird 2024 ein gutes Jahr und ich kann weiter daran wirken, vom Sehr-Gutmenschen zur Lichtgestalt zu werden, obwohl ich in Dunkeldeutschland zur Welt kam. Seit Weihnachten bin ich stolzer Besitzer einer Tageslichtlampe, die ein wenig Helligkeit ins Dunkel meiner letzten Lebensjahre bringen soll. Ich knipse sie an und feiere ein kleines Lichterfest, dass ich mich nicht unterkriegen lasse und wir alle weiterhin Strom haben, auch wenn er teuer ist.
Meine Heizung läuft bescheiden auf Stufe drei, vor dem Heizungshammer fürchte ich mich nicht. Man gewöhnt sich an alles, auch an den Schrecken. Bombennächte in der Ukraine? Drückt man weg. Krieg in Israel? Drückt man weg. Islamistische Terrorgefahr? Drückt man weg. Scheiße überall? Drückt man weg oder spült man runter. In der Toilette oder mit Alkohol. Das neue Jahr fühlt sich wie das alte an. Überall Gewalt, Hass und Zorn, Zeter und Mordio. Überall Sorgen und Ängste. Auch davor, etwas zu verpassen. Ich kenne zwei Leute, die nach Taiwan in den Urlaub sind, um es sich anzusehen, bevor es von China zerbombt wird.
Die Wut in der Mitte der Gesellschaft wächst so rasant wie der Mehltau auf dem Land, der schon so fett ist, wie es die Amerikaner sind. Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Klischees. Dann hier: Mit Deutschland geht es den Bach runter, endgültig. Es ist vorbei. Früher war alles besser. Bis auf die OPs ohne Narkose und die Schwarz-Weiß-Fernseher. Heute gibt es Schwarz-Weiß auf X und in Farbe. Aber wer guckt schon noch auf X oder fern? Ich nicht. Ich habe gar keine Zeit, arbeite jeden Tag wie ein Tier. Denn das Finanzamt lebt über meine Verhältnisse.
Alles ist furchtbar
Ich zitiere den Unternehmensberater Roland Berger, ein alter weiser Mann, der es wissen muss, wie es um Deutschland steht: "Seit ich beruflich tätig bin, war die Stimmung noch nie so schlecht." Und: "Der Patient ist schwer krank und von der Intensivstation nicht weit entfernt." Und: "Das Land wächst seit Jahren schwächer als andere Industrienationen." Und: "Der Bürger wird systematisch für dumm verkauft: Die Regierung tut so, als hätte sie nach der Wahl zum ersten Mal die Staats- und Sozialkassen gesehen." Und: "Dieser Staat hat keine klaren Visionen für die Zukunft des Landes. Das zerstört die Stimmung und das Vertrauen in unsere Zukunft."
Hilfe! Da muss man zum Fatalisten werden. Auch wenn die Aussagen Bergers vom November 2002 sind - recht hat der alte weise Mann. Denn jährlich grüßt das Murmeltier. Es ist egal, wer regiert, es geht den Bach runter. Immerhin führt der Bach wieder mehr Wasser, weshalb König Olaf der Unkommunikative in Gummistiefeln zu seinem Fußvolk flog und sich erkundigte, ob es nasse Füße und alle Schlafschafe ins Trockene gebracht hat. Statt sich über den Besuch zu freuen, heißt es doch immer, Politiker verlieren den Kontakt zur normalen Bevölkerung, so haben die Untertanen ihren König beschimpft. Und den Pferdeflüsterer nicht von der Fähre gelassen. Was nicht geht. Sollen sich die Bauerntölpel doch gefälligst an ihre Traktoren und Butterberge festkleben, wenn sie protestieren wollen. Und Nachrichten lesen, denn die Fortschrittskoalition hat sich doch schon korrigiert.
Den Deutschen kann man es sowieso nie recht machen. Erst klagen sie über Wassermangel, nun beklagen sie Wassermassen. Alle sind gegen Steuerbetrug. Aber tut der Staat etwas dagegen, passt es auch wieder nicht. Die Bäcker, seit Jahrzehnten bekannt als engagierte Umweltschützer, kämpften 2019 verbissen gegen den "Wahnsinn", auch kleine Läden zu verpflichten, Kassenbons auszustellen, selbst wenn der Kunde nur ein Brötchen kauft. Seit Januar 2020 können sie kein Schwarzbrot mehr verkaufen (zwinker, zwinker - der war gut).
Kilometerlange Kassenbons?
Ein Bäckermeister in NRW postete damals ein Foto mit allen 600 Bons, die er testweise eineinhalb Tage ausgedruckt hatte, um gegen den "Wahnsinn" zu protestieren: "Sondermüll. Eigentlich wollte ich morgen die Aktion fortsetzen, aber ich möchte meinen Kindern eine nicht noch schlechtere Erde hinterlassen", schrieb er. Womit er recht hat. "Im Einzelhandel in Deutschland rechnen wir mit mehr als zwei Millionen Kilometern zusätzlicher Länge an Kassenbons im Jahr", erklärte der Handelsverband Deutschland, der sich hoffentlich von Roland Berger in der Sache beraten ließ, damit die Prognosen stimmen.
Immerhin gibt es die Bäckerei in NRW nach wie vor, sie hat den "Wahnsinn" überlebt. Für mich ein Beweis, dass Deutschland noch nicht verloren ist, jedenfalls nicht völlig. Unsere Bäcker lassen sich nicht unterkriegen. Auch wenn die insolvente Kette Lila Bäcker ein Drittel ihrer Läden dichtmachen muss wegen der "schwierigen Marktbedingungen durch gestiegene Energie- und Rohstoffpreise, unter denen auch andere Bäckereien leiden", wie die Geschäftsführung erklärte. Die Bonpflicht hat sie in der Aufzählung vergessen.
Die gilt übrigens nur für elektronische Kassensysteme. Der Blumenladen bei mir um die Ecke hat eine uralte Kasse. Die Betreiber - der Migrationshintergrund spielt wie bei Bäckern keine Rolle - tippen dort nichts oder irgendetwas ein. Einmal traute ich mich, nach dem Warum zu fragen. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, denn als Sehr-Gutmensch ist man von Natur aus tolerant, auch Steuerbetrügern gegenüber. "Vergessen." Ich: "Na dann." Er tippte fünf Euro ein, bezahlt hatte ich für einen Blumenstrauß - ich bin alte Schule - 14 Euro. Meinetwegen. Leben und zahlen lassen, sag ich nur.
Frankreich hat die allgemeine Bon-Pflicht nach recht kurzer Zeit wieder gelockert - im Interesse der Umwelt. Dort sollen pro Jahr für rund 12,5 Milliarden Kassenbons 150.000 Tonnen Papier draufgegangen sein, was Millionen gefällte Bäume bedeuten würde. Seit 1. August müssen Kassen- und Kreditkartenbelege nur noch auf Wunsch der Kunden ausgehändigt werden. Man kann sich die Belege auch per SMS oder E-Mail schicken lassen. Nun kommen die Verbraucherschützer um die Ecke und warnen Kunden, dass sie dann Fehler an der Kasse nicht sofort reklamieren könnten und Rückerstattung oder Umtausch von Produkten ohne Papierbeleg schwieriger sei.
Ach, wäre die Welt doch nur nicht so schrecklich kompliziert, immer muss alles einen Haken haben. Und ich garantiere Ihnen: Einfacher wird es auch 2024 nicht. Ach ja, fast hätte ich es vergessen: Gesundes neues Jahr auch Ihnen!
Quelle: ntv.de