Mehr rechtsextreme Polizisten? "Die 400 Verfahren gegen Beamte sind nur die Spitze des Eisbergs"
05.04.2024, 19:35 Uhr Artikel anhören
Um mögliche rechtsextreme Strukturen bei der Polizei zu bekämpfen, bräuchte es "auch die Möglichkeit, mal aus dem Hamsterrad auszusteigen", sagt Polizeiforscher Behr (Symbolbild).
(Foto: IMAGO/A. Friedrichs)
Mindestens 400 Polizistinnen und Polizisten stehen im Verdacht, eine rechtsextremistische Gesinnung zu haben. Das ergibt eine Abfrage des "Stern" bei den Innenministerien der Länder. Der Professor für Polizeiwissenschaften Rafael Behr hält diese Zahl für wenig aussagekräftig - und das Problem für deutlich größer. Wenn alle Beamte mit rechtsextremen Gedanken gefeuert werden würden, gäbe es ein "veritables Personalproblem" bei der Polizei, sagt er im Gespräch mit ntv.de. Der ehemalige Polizist erklärt zudem, warum Polizeigewerkschaften den Begriff "strukturelles Problem" scheuen "wie der Teufel das Weihwasser" und warum die Radikalisierung der Beamten meist in den ersten Dienstjahren stattfindet.
ntv.de: Gegen mindestens 400 Polizeibeamte läuft derzeit ein Disziplinar- oder Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts auf eine rechtsextremistische Gesinnung. Das kam jüngst durch eine Recherche von "Stern" und RTL ans Licht. Überrascht sie diese Zahl?
Rafael Behr: Nein, überhaupt nicht. Aber sie beruhigt auch nicht. Vor allem, weil diese Zahlen im Grunde erkenntnisfrei sind, denn sie sagen kaum etwas über eine Zu- oder Abnahme von Rechtsextremismus innerhalb der Polizei aus. Aus ihr lässt sich also keine Gefahrenquote ablesen.
Hunderte möglicherweise rechtsextreme Polizistinnen und Polizisten klingen zumindest erschreckend. Warum gibt die Zahl keinen Aufschluss über ein mögliches Rechtsextremismus-Problem bei der Polizei?
Vor allem aus drei Gründen. Erstens werden hier Köpfe gezählt. Um dem Problem auf den Grund zu gehen, müsste man aber Verhaltensweisen und Strukturen beleuchten. Bei einigen Polizeigewerkschaftlern oder auch dem nordrhein-westfälischen Innenminister Herbert Reul wirkt es oft so, als könnte man die 400 Polizisten markieren, aus dem Dienst entfernen und dann wäre das Problem gelöst. Allerdings ist ja niemand von Geburt an Nazi und bleibt es bis zum Tod. Vielmehr sind rechtsextreme Gedanken und Handlungen etwas, was innerhalb von Strukturen entsteht, in das sich die Menschen hineinentwickeln und auch wieder herausentwickeln können. Zweitens ist der Terminus Rechtsextremismus eine Definitionssache. Im Grunde wird eine willkürliche Auswahl an nicht gewünschten Verhaltensweisen getroffen. Zum Beispiel die rechten Chatgruppen aus Frankfurt zeigen allerdings, dass in den Köpfen noch viel mehr als Rassismus vor sich geht. Da wurden etwa Behinderte oder Leichen verhöhnt.
Und der dritte Punkt?
Es handelt sich bei den gezählten Ermittlungsverfahren um Hellfelddaten. Auch hierbei geht jede Behörde nach eigenen Kriterien vor, einige melden zum Beispiel Verdachtsfälle, andere laufende Verfahren und wieder andere abgeschlossene Fälle. Einige Bundesländer haben gar keine Zahlen gemeldet, darunter auch Mecklenburg-Vorpommern, wo ich besonders neugierig gewesen wäre. Ich gehe also davon aus, dass die Dunkelziffer um einiges höher liegt. Die 400 Verfahren gegen Beamte sind nur die Spitze des Eisbergs. Herr Reul und Co. hätten mit ihrem Ansatz, alle Beamten mit rechtsextremen Gedanken rauszuschmeißen, also auch schnell ein veritables Personalproblem.
Der Chef der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke, sieht hingegen keinen Grund für Alarmstimmung. Immerhin ist die Zahl von 400 verdächtigen Beamten im Verhältnis zu den 330.000 Polizeibeschäftigten in Deutschland gering.
Das ist zu vereinfacht gedacht. Wir wissen, dass es eine große Schnittmenge zwischen Rechtsextremismus und einer autoritären Einstellung gibt. Und wir sehen, dass es in der Polizei als Institution immer autoritärer wird. Untersucht wurde das mit der MEGAVO-Studie der Deutschen Hochschule der Polizei. Dabei gaben zehn Prozent an, eine explizit autoritäre Einstellung zu haben. Zehn Prozent wünschen sich also einen starken Staat, eine gnadenlose Strafverfolgung und halten nicht viel von Demokratie. Außerdem gaben 58 Prozent an, ambivalent zu sein. Das heißt: Auf insgesamt 68 Prozent können wir uns, was die Demokratiefestigkeit anbelangt, nicht verlassen. Das finde ich durchaus alarmierend. Und das hat mit den 99,9 Prozent der Beamten, die laut Horst Seehofer auf dem Boden der Demokratie stehen, auch nicht viel zu tun.
Es ist die alte Diskussion: Geht es um Einzelfälle oder hat die Polizei ein strukturelles Problem mit Rechtsextremismus? Bei 68 Prozent scheint die Antwort eindeutig.
Natürlich muss man sagen: Die Polizei ist keine rassistische Organisation. Allerdings sprechen wir auch nicht von Einzelfällen, es sind nicht einige wenige, die ausscheren. Das Problem ist, dass die Gewerkschaften nicht einsehen, dass Menschen in Strukturen arbeiten. Sie scheuen den Begriff "strukturelles Problem" wie der Teufel das Weihwasser. Andernfalls müssten sie nämlich andere Fragen stellen und andere Forschung zulassen.
Welche Art von Forschung wäre das?
Eine, die Aussagen darüber trifft, wo genau Polizeibeamte mit rechtsextremen Gedanken arbeiten. Weder die Zahl der Ermittlungsverfahren noch die MEGAVO-Studie gibt Aufschluss darüber, sie schmeißen Verwaltung und Vollzugspolizei in einen Topf. Dabei sollte es uns noch deutlich mehr alarmieren, wenn die Polizisten, die im Kontakt mit Menschen sind und diese festnehmen können, rassistisch denken, als wenn jemand, der im Chemielabor beim LKA Proben entnimmt, Nazi ist. Wenn es Studien gäbe, die genau beleuchten, wer welchen Job macht, könnten wir strukturelle Probleme aufhellen. Denn der Dienst ist ja eine Struktur: Wir müssten uns anschauen, wer das Sagen hat, welche Befehle es gibt, wie die Hierarchien aussehen. Dann wüssten wir auch, warum die Probleme in bestimmten Gruppen wie etwa der Bereitschaftspolizei in sozialen Brennpunkten größer sind als bei der Jugendverkehrspolizei oder dem Fußstreifendienst.
Das heißt, die rechtsextremistische Gesinnung könnte etwas mit dem konkreten Polizeidienst zu tun haben, möglicherweise dort entstehen?
Es gibt die These, dass Polizei und Bundeswehr von vornherein gewaltbereite und autoritäre Persönlichkeiten anziehen, das sehe ich allerdings nicht so. Vielmehr gibt es kleinere Forschung dazu, dass die Straflust der Anwärter in der Ausbildung sogar zurückgeht. Die Radikalisierung oder Verhärtung findet in den ersten Berufsjahren statt. Wenn die jungen Polizisten in Milieus kommen, die sie nicht verstehen und wenn sie ihren Dienst als nicht erfolgreich erleben. Also wenn sie zum Beispiel immer wieder die gleiche Person wegen Betäubungsmittelverstößen festnehmen und sehen, dass sie nicht verurteilt wird, aber keine Erklärung dafür bekommen. Andererseits trifft selbstverständlich jeder seine eigenen Entscheidungen. Wie die Gewerkschaften zu sagen "Good people do bad work", also alles auf die Belastung zu schieben, ist auch Unfug. Vielmehr steigt die Chance, dass die Beamten destruktive Coping-Strategien wählen, wenn sie mit der Belastung allein gelassen werden. Einige werden Alkoholiker, andere Sexisten und wieder andere politisch radikal - vor allem, wenn es wie derzeit noch Begleiterscheinungen gibt. Aber all das ist phasenspezifisch und kann sich wieder zurückbilden.
Welche Begleiterscheinungen meinen Sie?
Zum Beispiel der Vormarsch der AfD. Wer merkt, dass eine Partei, bei der die Hemmschwellen immer niedriger werden und in der ein Faschist wie Höcke Mitglied ist, demokratisch gewählt im Bundestag sitzt, könnte denken, dass Äußerungen wie die von Gauland "Der Nationalsozialismus war ein Mückenschiss der Geschichte" nicht so schlimm sind. Es gibt durchaus fließende Übergänge zwischen rechtsradikal und rechtsextrem. Das kann auch für Vorgesetzte schwierig sein.
Der wachsende Einfluss von Rechten und Rechtsextremen ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Ist es vor diesem Hintergrund nicht die logische Konsequenz, dass die rechtsextreme Dynamik auch in der Polizei zunimmt?
Die Polizei ist kein Spiegelbild der Gesellschaft. Und noch wichtiger: Ich kann mich doch nicht mit dem Gedanken beruhigen, dass die Polizei nicht schlimmer ist als der Durchschnitt der Bevölkerung. Denn die Bevölkerung hat keine Handfesseln, keine Polizeizelle, keine Schusswaffe. Sie hat keine hoheitlichen Befugnisse, deswegen kann man sie auch nicht als Vergleichsmaßstab nehmen.
Der GdP-Chef sprach angesichts der Ermittlungsverfahren von einer hohen Sensibilität gegenüber extremistischen Umtrieben. Tut sich etwas im Kampf gegen Rechtsextremismus bei der Polizei?
Ich finde solche Äußerungen ärgerlich, weil sie die Öffentlichkeit mit falschen Tatsachen versorgen. Gerade Polizeigewerkschaftler müssen es besser wissen. Studien zeigen, dass ein großer Teil solcher Ermittlungsverfahren im Sande verläuft. Vor allem aber kennt das Beamtenrecht sehr viele Schutzmechanismen, sodass viel passieren muss, bevor jemand eine drastische Strafe bekommt. Dazu kommt eine desaströse Gesetzeslage: Zum Beispiel ist der Tatbestand der Volksverhetzung erst dann erfüllt, wenn der öffentliche Friede gestört ist. Das ist nur dann der Fall, wenn viele Menschen zuhören. Wer also in einem geschlossenen Chat mit fünf oder zehn Polizisten Nazipropaganda betreibt, fällt nicht darunter. Der geht als unbescholtener Bürger aus dem Gerichtsprozess. Zu sagen, jeder, der sich rechtsextrem äußert, wird sanktioniert und rausgeschmissen, ist also schlicht falsch.
Wie können mögliche rechtsextremistische Strukturen bei der Polizei nachhaltig bekämpft werden?
Die Polizisten müssen befähigt werden, in komplexen gesellschaftlichen Strukturen zu arbeiten und das zu reflektieren, was sie tun. Die Beamten arbeiten in einer Dominanzkultur - sie haben das Sagen, sie setzen das Recht durch. Wenn sie merken, dass ihnen das streitig gemacht wird, kann eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder andere Stereotype entstehen. Aus einer Ohnmacht und Verlustangst heraus stellt man sich gegen die, die man gerade kriegen kann. Dass das keine Lösung ist, muss den Polizisten gesagt werden, das muss erarbeitet werden. Es braucht zum Beispiel mehr Zeit, im Sinne einer Supervision über die eigene Arbeit nachzudenken. Auch die Möglichkeit, mal aus dem Hamsterrad auszusteigen, wäre wichtig. Außerdem ist es wichtig, dass die Mehrheit den Mund aufmacht. Dass es genug Leute gibt, die sich bei einem rassistischen Spruch nicht wegducken, sondern dem entgegentreten. Denn viele sind eben einfach nur Mitläufer. In Niedersachsen gibt es zum Beispiel bereits sogenannte Demokratiepaten bei der Polizei, die ausgebildet wurden, genau das zu tun. So können die, die rumpoltern leiser gemacht werden. Es ist ein Anfang für einen Kulturwechsel bei der Polizei.
Mit Rafael Behr sprach Sarah Platz
Quelle: ntv.de