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Alles nur herbeigetestet? Rätselraten um hohe Inzidenzen bei Kindern

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Sind Schulen trotz Tests, Lüftens, Masken und Distanz Ansteckungsherde?

(Foto: picture alliance/dpa)

Die 7-Tage-Inzidenzen von Kindern und Jugendlichen schießen in die Höhe. Bei älteren Teenagern nähern sie sich der 300er-Marke. Darüber, warum das so ist, wird heftig gestritten. Klare Daten, um die Frage nach dem Warum zu klären, gibt es noch nicht. Das ist ein großes Problem.

Dem angepassten Infektionsschutzgesetz zufolge sollen Schulen bei 7-Tage-Inzidenzen von 165 dichtmachen, bei Werten ab 100 soll Wechselunterricht verpflichtend sein. Über den Sinn dieser Grenzwerte wird heftig diskutiert. Wissenschaftlich sind sie nicht begründet. Für die einen sind sie zu hoch, für die anderen zu niedrig. Und mit den tatsächlichen Inzidenzen der Betroffenen haben sie auch nichts zu tun, denn diese liegen bei Kindern und Jugendlichen weit über den Grenz-Inzidenzen.

Warum das so ist - darüber wird ebenfalls leidenschaftlich gestritten. Für die einen stecken sie sich vor allem in den Schulen an, die anderen vermuten Infektionen eher im privaten Bereich. Was wirklich stimmt, wird man wohl so schnell nicht wissen, denn die Datenlage ist bescheiden.

Inzidenzen nahe 300

Fakt ist, dass die gemeldeten Fallzahlen der 6- bis 19-Jährigen enorm angestiegen sind. Die Zahl der Fälle je 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen (Sieben-Tage-Inzidenz) bei Kindern zwischen 5 und 9 Jahren kletterte innerhalb einer Woche von 126 auf 185. Bei den 10- bis 14-Jährigen stieg der Wert von 139 auf 205 an. Die Teenager zwischen 15 und 19 Jahren hatten schon in der vergangenen Woche eine sehr hohe Inzidenz von 192, jetzt beträgt sie 271. Das ist der höchste Wert aller Altersgruppen. Und bei keiner anderen Gruppe war die Zunahme der registrierten Neuinfektionen in den vergangenen zwei Wochen ähnlich kräftig.

Daraus könnte man vorschnell schließen, dass die weit über dem Durchschnitt liegenden Fallzahlen auf Ansteckungen in den Schulen zurückzuführen sind. Das gibt diese Statistik allerdings nicht her. Denn bei den 20- bis 24-Jährigen ist die Inzidenz mit 249 kaum niedriger als bei den 15- bis 19-Jährigen. Und auch alle anderen Altersgruppen bis 44 Jahre haben Werte jenseits der 200.

Es sind nicht nur Schüler

Möglicherweise stecken Schulkinder ihre Eltern an, wie eine Studie (Preprint) im Auftrag des dänischen Gesundheitsdienstes SSI vermuten lässt. Eines ihrer Ergebnisse ist, dass das Risiko von Erwachsenen mit jedem Kind in ihrem Haushalt steigt, vor allem wenn dieses älter als sechs Jahre ist.

Dagegen sprechen die Inzidenzen der 20- bis 29-Jährigen. Denn laut dem Statistischen Bundesamt sind Frauen beim ersten Kind durchschnittlich 30,1 Jahre alt, Väter 33,1 Jahre. Bei der Einschulung sind sie also etwa 36 oder 39 Jahre alt. Es kann sich auch kaum um Lehrkräfte handeln, denn im Schuljahr 2019/20 waren an allgemeinbildenden Schulen von insgesamt 693.756 Lehrerinnen und Lehrern lediglich 49.701 jünger als 30 Jahre.

Gegen Ansteckungen in Schulen spricht auch, dass in den meisten Bundesländern erst am 10. April die Osterferien zu Ende gingen. Das RKI geht bei Covid-19 von einer Latenzzeit von drei Tagen aus. Das heißt, man wird ungefähr nach diesem Zeitraum nach einer Infektion ansteckend. Die Mittelwerte der Inkubationszeit, also die Zeit die vergeht, bis Symptome auftreten, werden von Studien zwischen vier und neun Tagen gesehen.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass es Inkubationszeiten bis zu 14 Tagen geben kann und Schnelltests erst kurz nach Symptombeginn anschlagen, ist es unwahrscheinlich, dass eine relevante Anzahl der vergangenen Woche erkannten Infektionen vor den Ferien in der Schule stattfanden.

Wegen der Ferien geben auch die jüngsten Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK) nichts her, da sie aus der letzten Ferienwoche stammen. Die Werte der Woche vor Ferienbeginn sind kein Indiz für Schulen als Pandemietreiber. Zwar wurden rund 11.000 infizierte Schülerinnen und Schüler (SuS) registriert, das waren zu diesem Zeitpunkt allerdings nur 0,11 Prozent der SuS im Präsenzunterricht. Mit 1591 Infektionen waren Lehrerinnen und Lehrer (LuL) zwar stärker betroffen, aber auch hier betrug der Anteil lediglich 0,77 Prozent.

Kitas betroffen, mehr aber auch nicht

Aber wenn nicht in den Schulen, wo haben sich die Kinder und Jugendlichen dann das Virus eingefangen? Das RKI schreibt: "Die hohen bundesweiten Fallzahlen werden durch zumeist diffuse Geschehen mit zahlreichen Häufungen insbesondere in Haushalten, im beruflichen Umfeld sowie in Kitas und Horteinrichtungen verursacht."

Was die Kindergärten betrifft, gibt ein Blick in das Dashboard der Corona-Kita-Studie des RKI Aufschluss. Die jüngsten Daten stammen hier aus der Woche vom 29. März bis 4. April. Tatsächlich ist hier seit der letzten Februarwoche ein stetiger Anstieg der wegen Covid-19-Fällen nötigen Gruppenschließungen und komplett geschlossenen Kitas zu sehen. Zuletzt mussten in rund fünf Prozent der Einrichtungen Betreuungsgruppen in Quarantäne, etwa 1,5 Prozent der Kitas waren gezwungen, vorübergehend komplett dichtzumachen. Dabei muss man aber beachten, dass dabei auch Verdachtsfälle bei Betreuern und Eltern miteinbezogen werden.

Das RKI schreibt zwar, "die dritte Welle der Coronapandemie ist auch in der Kindertagesbetreuung deutlich sichtbar". Allerdings heißt es im Monatsbericht März der Corona-Kita-Studie auch: "Von allen Ausbrüchen, bei denen Kinder im Alter von 0 bis 5 Jahre beteiligt waren, wurden 13 Prozent dem Umfeld Kita/Hort zugeordnet. Fast zwei Drittel aller Ausbrüche mit Kinderbeteiligung (0 bis 5 Jahre) geschahen im privaten Haushalt." Den größten Anteil der insgesamt 11.163 registrierten Fälle machten dem RKI zufolge weiterhin Personen im Alter von 15 Jahren und älter mit 6636 Fällen (52 Prozent) aus.

Es liegt nicht nur an den Tests

Die vermehrten Tests haben mit Sicherheit einen Anteil an der Zunahme der Inzidenzen bei Kindern und Jugendlichen. Lange Zeit wurden sie nur sehr selten getestet, da dies ausschließlich bei eindeutigen Symptomen gemacht wurde. Doch die vermehrten Tests können nicht ausschließlich für die explodierenden Fallzahlen verantwortlich sein.

Die Test-Positivrate ist bei Kindern und Jugendlichen nahezu gleich geblieben. Im Surveillance-Bericht des RKI vom 2. März betrug sie bei den 0- bis 4-Jährigen 7 Prozent, bei Kindern zwischen 5 und 14 Jahren 11 Prozent und bei den 15- bis 34-Jährigen 10,7 Prozent. Im aktuellen Bericht betragen die Werte 6,9, 11,5 und 10,3 Prozent.

Hier geht es um PCR-Tests, die Tests an den Schulen sind aber Antigen-Schnelltests. Erst ein positiver Schnelltest muss durch einen PCR-Test bestätigt werden. Damit steigt die Trefferquote, da solche Tests gezielt durchgeführt werden und auch symptomlos Infizierte entdecken, die sonst in keiner Statistik aufgetaucht wären. Das erhöht die Positivrate.

Doch der Effekt ist bisher wohl nicht allzu groß. In Hamburg haben sich beispielsweise im März an 370 von insgesamt 430 Schulen der Hansestadt rund 80.000 von 95.000 Schülerinnen und Schüler freiwillig einem Schnelltest unterzogen. Bei 111 von ihnen gab es ein positives Resultat. Das sind 0,14 Prozent der getesteten Schüler.

Die Lehrer sind ansteckender

Dabei ist nicht klar, ob sich Schüler in der Schule oder in der Freizeit angesteckt haben, wenn es nicht zu einem Superspreader-Event kommt. Und selbst dann könnte es sich bei dem Superspreader um eine Lehrkraft handeln. Eine Harvard-Studie hat festgestellt, dass die Menge der ausgestoßenen Aerosole unter anderem von Gewicht und Alter eines Menschen abhängt.

Göttinger Wissenschaftler haben Schulszenarien für eine Risikoermittlung per Web-App analysiert: Haben 15 Schüler im Durchschnittsalter von 13 Jahren 60 Minuten gemeinsamen Unterricht in einem 50 Quadratmeter großen Klassenzimmer mit 3 Meter hohen Wänden, beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass sich mindestens ein Schüler infiziert, 100 Prozent. Jeder einzelne von ihnen hat ein 45-prozentiges Risiko. Dies gilt, wenn der Lehrer oder die Lehrerin das Virus verbreitet und 80 Prozent der Schulstunde laut redet. Die Wahrscheinlichkeiten sinken dagegen deutlich auf 32 und 3 Prozent, wenn ein Schüler oder eine Schülerin Virusträger ist.

Dies liegt einerseits daran, dass die Forscher hier nur von einem Redeanteil von 10 Prozent ausgehen. Beim Sprechen oder Singen sei der Aerosol-Ausstoß von Erwachsenen und Jugendlichen aber etwa um einen Faktor 10 höher als bei ungefähr zehnjährigen Kindern, erklärten sie ntv.de. Besonders wichtig sei die Lautstärke. Von leise (80 Dezibel) bis laut (105 Dezibel) steige der Ausstoß um einen Faktor 10 bis 20.

Andere Faktoren möglicherweise entscheidender

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Warum die Fallzahlen bei Kindern und Jugendlichen so extrem steigen, kann man also derzeit noch nicht wirklich sagen. Dafür ausschließlich Schulen und Kitas verantwortlich zu machen, ist offenbar nicht gerechtfertigt. Wahrscheinlich kommen verschiedene Faktoren zusammen. Das in diesen Altersgruppen normale und wichtige Sozialverhalten könnte beispielsweise eine viel größere Rolle spielen.

Die jungen Leute könnten sich auch bei ihren Eltern anstecken, die oft in geschlossenen Räumen mit Kollegen zusammen sind und sich vielleicht dort infiziert haben. Außerdem darf man nicht unter den Tisch fallen lassen, dass Jugendliche oft keine Schüler, sondern Auszubildende in Betrieben sind. Im vergangenen Jahr machten rund 20 Prozent der 14- bis 19-Jährigen eine Lehre. Und strenge Kontrollen oder gar eine Testpflicht wie bei Schulen sieht in Unternehmen auch das neue Infektionsschutzgesetz nicht vor.

Quelle: ntv.de

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