Panorama

Coronavirus teilt das Land Schweiz diskutiert über das "Todesküsschen"

Intensivmediziner in einem Krankenhaus im Wallis: In den französischsprachigen Kantonen sind die Ansteckungszahlen besonders hoch.

Intensivmediziner in einem Krankenhaus im Wallis: In den französischsprachigen Kantonen sind die Ansteckungszahlen besonders hoch.

(Foto: picture alliance/dpa)

Die Schweiz hat ein Corona-Problem. Das Fallaufkommen mag zwar im Vergleich zu den Zahlen, die man aus Deutschland gewohnt ist, gering erscheinen. Doch das Gesundheitssystem gerät an seine Grenzen. Die Suche nach Ursachen treibt die Medien um. Und die Frage: Warum sind die regionalen Unterschiede so groß?

Es gibt Bilder, die sich in den vergangenen Corona-Monaten in das öffentliche Gedächtnis eingebrannt haben. Etwa die grünen Armee-Laster, die Leichen im italienischen Bergamo wegtransportieren. Oder die langen Autoschlangen vor Drive-in-Teststationen in den USA. Es gibt auch Zahlen, die beinahe jeder Mensch, an dem das Nachrichtengeschehen nicht spurlos vorbeigegangen ist, rezitieren kann: die kritische Marke von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen zum Beispiel. Oder die Modellrechnung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die ein Vorgeschmack auf die täglich mehr als 20.000 neuen Fälle in Deutschland war.

Doch wenn von kritischen Werten und besonders betroffenen Regionen die Rede ist, taucht ein Land in der internationalen Debatte so gut wie gar nicht auf: die Schweiz. Das könnte sich allerdings nun ändern. Das liegt zum einen an einem dramatischen Statement, zum anderen an einer außergewöhnlichen Verteilung der Fallzahlen.

Der Reihe nach: Anfang der Woche teilt die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin mit, dass landesweit alle Intensivbetten belegt sind. Vor allem ein dramatischer Satz lässt aufhorchen: "Alle Personen - vor allem diejenigen, die durch das neue Coronavirus besonders gefährdet sind - werden gebeten, sich im Rahmen einer Patientenverfügung Gedanken dazu zu machen, ob sie im Falle einer schweren Erkrankung lebensverlängernde Maßnahmen erhalten möchten oder nicht."

So klingt das also, wenn es keine Hoffnung mehr gibt, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Aktuell (Stand 20.11.) werden in der Schweiz 536 Covid-19-Patienten intensivmedizinisch betreut. Das sind etwas mehr als noch vor einer Woche (490). Zusammen mit den anderen Intensiv-Patienten gelten damit so gut wie alle benötigten Betten als belegt. Zum Vergleich: In Deutschland befinden sich derzeit 3621 infizierte Menschen in intensivmedizinischer Behandlung - also knapp siebenmal so viele. Doch während die Schweiz knapp 8,6 Millionen Einwohnern zählt, leben in Deutschland gut 83 Millionen Menschen.

Das Virus macht doch vor Grenzen halt

Wegen der sich zuspitzenden Corona-Lage will die Schweizer Regierung die militärische Unterstützung für überlastete Kliniken ausweiten, berichtete vor wenigen Tagen die Nachrichtenagentur AFP. Soldaten könnten die Kliniken bis Ende März kommenden Jahres logistisch und bei der Kontaktverfolgung unterstützen, sagte Verteidigungsministerin Viola Amherd. Der am schwersten von der Pandemie betroffene Kanton Genf forderte zusätzliche Unterstützung für die Krankenhäuser an.

Die Lage ist also durchaus ernst. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt die Schweiz inzwischen zu den am schwersten betroffenen Staaten auf dem europäischen Kontinent. In den vergangenen 24 Stunden steckten sich 4946 Menschen nachweislich mit dem Erreger Sars-CoV-2 an. Damit sind in dem Land bislang 290.601 Coronavirus-Fälle registriert worden. Die Sieben-Tage-Inzidenz, also das Fallaufkommen aus den zurückliegenden sieben Tagen je 100.000 Einwohner, liegt laut ntv.de-Berechnung bei 351,21. Zum Vergleich: Die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland beträgt dem Robert-Koch-Institut zufolge aktuell 139,0. Insgesamt beklagt die Schweiz 3575 Todesfälle, zuletzt kamen 119 Todesfälle hinzu.

Allein aus der Auflistung dieser Werte ergibt sich ein relativ erschütterndes Bild. Doch das Außergewöhnliche - und damit der zweite Punkt, weshalb die Schweiz zusehends in die Schlagzeilen gerät - sind die deutlichen regionalen Unterschiede bei der Corona-Verteilung. Sie sind so gravierend und kulturpolitisch relevant, dass sowohl in- als auch ausländische Medien darüber spekulieren, warum das Virus anscheinend doch vor (Kantons-) Grenzen halt macht.

Wie unter anderem die Wochenzeitschrift "Die Zeit" aufschlüsselt, sind es vor allem die französischsprachigen Regionen, die sogenannte Romandie, die mit hohen Infektionszahlen zu kämpfen haben. Die östlichen Kantone, in denen Deutsch, Italienisch oder - vereinzelt - Rätoromanisch gesprochen wird, kommen verhältnismäßig besser durch die Krise. Zwar gibt es laut "Zeit" auch im Kanton Basel-Landschaft 1300 nachgewiesene Infektionen pro 100.000 Einwohner seit Anfang Juni. Im französischsprachigen Genf seien es dagegen 6000.

Der "Todesküsschen-Faktor"

Demnach sei schon im Frühjahr erkenntlich gewesen, dass es Dissonanzen entlang der Sprachgrenzen gebe. Dem Bericht zufolge starben damals in der Westschweiz viermal so viele Menschen mit einer Corona-Infektion wie in der Deutschschweiz. Eine eindeutige Begründung, woran das liegen könne, gebe es aber bislang nicht. Bei der Ursachenforschung zählt "Die Zeit" verschiedene Faktoren auf: etwa die geografische Nähe zum damaligen pandemischen Epizentrum Norditalien sowie die gemessen an den absoluten Fallzahlen spät erlassenen Eindämmungs-Maßnahmen.

Doch in der nunmehr zweiten Welle würden mit Jura, Wallis und Freiburg darüber hinaus frankophone Regionen herausstechen, in der ein innerkantonaler Corona-Graben zutage trete, wie "Die Zeit" schreibt. Er laufe exakt entlang der Sprachgrenze und weise auch hier für das französischsprachige Gebiet eine höhere Fall-Inzidenz aus. Das ist insofern erstaunlich, als dass auf die gesamte Schweiz bezogen überall ähnliche Regeln zur Eindämmung des Virus gelten.

Der von der Zeitung befragte Epidemiologe der Universität Bern, Christian Althaus, wird mit den Worten zitiert, dass vor allem die Art und Weise, wie sich Menschen bei einem Treffen verhalten, entscheidend für das Infektionsgeschehen sei. Es gehe um die Fragen, wie viele Personen sich sehen, welche Generationen dabei vereint sind, wie nah sich die Beteiligten kommen und was bei der Zusammenkunft konsumiert wird. Demnach habe die geografische Nähe zu Frankreich, wo es seit Ende September zu einem drastischen Anstieg der Fallzahlen kam, bei der zweiten Welle kaum eine Rolle gespielt. "Vermutungen in diese Richtung scheinen mir eher ein typischer Schweizer Reflex zu sein, die Ursachen für Probleme im Ausland zu suchen", so Althaus.

Und es gibt noch eine ganz andere, banal anmutende Erklärung: den "Todesküsschen-Faktor". Im Gespräch mit dem Schweizer "Tages-Anzeiger" präsentierte der frühere Parteipräsident der Sozialdemokraten und jetzige Hotelier Peter Bodenmann eine eigenwillige Formel: "Aus der Anzahl der Kontakte, geteilt durch die durchschnittliche Nähe pro Kontakt, ergibt sich der Todesküsschen-Faktor." Demnach werden bei der Begrüßung und der Verabschiedung in der Westschweiz mehr Küsschen ausgetauscht - ein Verhalten, das bekanntlich das Infektionsrisiko (Stichwort Tröpfchen und Aerosole) erhöht.

Der Schweizer Weg

Kann es denn wirklich so einfach sein? Vermutlich nicht. Denkbar sind auch Faktoren wie die konkreten Maßnahmen vor Ort, die sozioökonomische Lage der Menschen (Wohnsituation oder Arbeitsplatz) und natürlich der Wille und die Möglichkeiten jedes Einzelnen, sich an die Regeln zu halten. Der "Tages-Anzeiger" sieht zudem eine nachlassende Angst vor dem Virus und eine "ausgeprägte Westschweizer Feierkultur", die zu einer Eskalation bei den Fallzahlen geführt haben könnten.

Diese Erklärweisen und vor allem Bodenmanns "Todesküsschen-Faktor" sorgten bei den Menschen in der Romandie für Empörung. Ähnliche Schuldzuweisungen von Bundesland zu Bundesland haben in der Vergangenheit bekanntlich auch in Deutschland nicht funktioniert - obwohl sich im Norden und Osten durchaus Landkreise befinden, die im Vergleich zum Rest der Republik ein weniger dynamisches Infektionsgeschehen aufweisen. Nicht auszudenken, man würde den herzlichen Rheinländern pauschal ein Fehlverhalten unterstellen und denen als kühl stilisierten Norddeutschen jegliche Form der Kontaktfreude absprechen.

Jedenfalls sieht die Schweizer Regierung trotz der derzeitigen Lage in einem harten Lockdown keine Option. Zwar gibt es durchaus Regeln, wie das Schließen von Restaurants und Bars ab 23 Uhr sowie eine Maskenpflicht an bestimmten Orten, in Deutschland sind die erlassenen Maßnahmen und insbesondere die Kontaktbeschränkungen allerdings ungleich strenger. Schweizer Medien sprechen in diesem Zusammenhang auch vom Schweizer Weg, der vor allem auf die Vernunft und Eigenverantwortlichkeit der Eidgenossen setze.

Der "Blick" rechnet vor, dass dadurch die Wirtschaft besser durch die Krise komme als in anderen Staaten und auch eine "Wende bei den Neuansteckungen" geschafft sei. Der Basler Epidemiologe Marcel Tanner wird mit den Worten zitiert: "Wir sind vorsichtig optimistisch." Ziel sei es, alle zwei Wochen die Fallzahlen zu halbieren. "In einer Woche konnten die Neuinfektionen um 26 Prozent gesenkt werden", so das Mitglied der wissenschaftlichen Taskforce des Bundes. Es besteht also doch Anlass zur Hoffnung. Und sollte sich die Lage tatsächlich wieder entspannen, muss das Land im Herzen Europas weder länger als Negativbeispiel herhalten noch weiter kantonale Grabenkämpfe ausfechten.

Quelle: ntv.de, Mitarbeit: Martin Morcinek und Christoph Wolf

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