Panorama

Sprechen, verstehen, handeln Wie lassen sich Suizide verhindern?

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
Aus Scham und Angst vor Ablehnung ziehen sich viele Menschen in suizidalen Krisen zurück.

Aus Scham und Angst vor Ablehnung ziehen sich viele Menschen in suizidalen Krisen zurück.

(Foto: picture alliance/dpa)

In Deutschland nimmt sich alle 51 Minuten ein Mensch selbst das Leben. Alle neun Minuten verliert jemand eine nahestehende Person durch Suizid. Vielen Gefährdeten könnte geholfen werden. Doch gesellschaftliche Tabus und fehlendes Geld stehen dem oft im Weg.

Jeder 100. Todesfall in Deutschland ist ein Suizid. Jährlich nehmen sich hierzulande rund 10.000 Menschen selbst das Leben. Durch Suizide sterben mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle, Mord und Totschlag, AIDS und illegale Drogen zusammen. Die Zahl der Suizidversuche liegt bei etwa 100.000 pro Jahr. Das geht aus Zahlen des Nationalen Suizidpräventionsprogramms (Naspro) hervor.

Rat bei Depression und Suizidgefahr
  • Bei Suizidgefahr: Notruf 112
  • Deutschlandweites Info-Telefon Depression, kostenfrei: 0800 33 44 5 33
  • Telefonseelsorge (0800/111-0-111 oder 0800/111-0-222, Anruf kostenfrei)
  • Kinder- und Jugendtelefon (Tel.: 0800/111-0-333 oder 116-111)
  • Deutsche Depressionshilfe (regionale Krisendienste und Kliniken, Tipps für Betroffene und Angehörige)
  • Deutsche Depressionsliga

Suizide sind also kein Randphänomen. Und trotzdem ist das Thema noch immer mit einem Tabu belegt. Ein Tabu, das zu "Sprachlosigkeit, Verständnislosigkeit und mangelndem gesellschaftlichen Handeln" führe, sagt Naspro-Leiterin Barbara. Vielen Suizidgefährdeten fehle es noch immer an Möglichkeiten, ihre Probleme anzusprechen und damit notwendige Hilfe zu finden. Die Hintergründe seien vielfältig, oftmals spielten Scham und die Angst vor Zurückweisung eine große Rolle.

Beschämt, wirkungslos, schuldig: Auch Angehörige von suizidalen Personen hätten häufig ganz ähnliche Gefühle. Und so enden viele wichtige Gespräche mit gefährdeten Freunden oder Verwandten noch bevor sie beginnen. Dabei seien gerade dies wichtige Bausteine in der Suizidprävention: miteinander sprechen, einander zuhören und die Gefühle des Gegenübers begreifen. Das verdeutliche auch das Motto "offen reden - aktiv verstehen - gesellschaftlich handeln" des diesjährigen Welttags der Suizidprävention. Der Tag wird jährlich am 10. September begangen.

Ehrenamtlich und unterfinanziert

Um das Thema Suizid aus der Tabuzone zu holen und Betroffenen und Gefährdeten echte Hilfe anbieten zu können, müssten laut Schneider auf erste Gespräche und offene Ohren wichtige nächste Schritte folgen. Vor allem niedrigschwellige Angebote, die auch kurzfristig zur Verfügung stehen, wie etwa Telefon-Hotlines oder Websites, seien hierbei essenziell. Zwar gebe es bereits solche Hilfsangebote. Die jedoch beruhten vorwiegend auf ehrenamtlicher, projektbasierter und vor allem unterfinanzierter Basis. Das darf nicht sein, sagt Schneider.

Erst im März hatte der Berliner Senat verkündet, der "Nummer gegen Kummer", einem Sorgentelefon für Kinder und Jugendliche, die Mittel für den Standort Berlin zu streichen. Etwa 100 Ehrenamtsstellen seien davon betroffen, heißt es auf der Seite des Vereins. Kritik kam unter anderem von der SPD, die die Entscheidung als "absolut falsches Signal" bezeichnete. Die Grünen nannten die Streichungen "fatal".

Als eine Art kurzfristige Notfallhilfe werde mittlerweile auch immer wieder zu KI gegriffen, sagt Diana Kotte von der Suizidpräventionsseite MANO gegenüber ntv.de. In akuten Fällen könnten Chatbots eine niedrigschwellige und anonyme erste Anlaufstelle sein, bei der suizidale Menschen ihre Gedanken teilen und Unterstützung erhalten können. Doch Künstliche Intelligenz sei ein "zweischneidiges Schwert" und ersetze in keinem Fall eine professionelle Beratung durch geschultes Personal.

Dass KI unter Umständen auch in die andere Richtung wirken kann, zeigt ein Fall in den USA. Dort verklagen die Eltern eines Teenagers die ChatGPT-Entwicklerfirma OpenAI. Ihr Vorwurf: ChatGPT soll ihren Sohn dabei unterstützt haben, sich das Leben zu nehmen. Die Eltern stützen sich dabei auf Unterhaltungen mit dem Chatbot, die sie auf dem Smartphone des 16-Jährigen fanden.

OpenAI kündigte nach Bekanntwerden der Klage verbesserte Maßnahmen zur Suizidprävention an. Für Nutzerinnen und Nutzer im Alter unter 18 Jahren soll es zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen geben. OpenAI stellte etwa "stärkere Leitplanken bei sensiblen Inhalten und riskantem Verhalten" in Aussicht. Eltern sollen sich besser darüber informieren können, wie ihre Kinder ChatGPT nutzen.

Fälle, in denen Menschen von einer KI in ihren Suizidgedanken bestärkt werden, seien Kotte aus Deutschland zwar nicht bekannt. Doch es sei in jedem Fall wichtig, dass der Jugendschutz beim Gebrauch von Chatbots gesichert ist.

"Keine Suizidprävention zum Nulltarif"

Auch laut Naspro-Co-Leiter Reinhard Lindner können Plattformen wie ChatGPT in akuten Krisenfällen hilfreich sein. Vor allem, weil viele suizidale Menschen Angst vor direktem Kontakt hätten, wie er auf Nachfrage von ntv.de erklärt.

Gleichzeitig mahnt er aber, Suizidprävention dürfe keine rein individuelle oder gesellschaftliche Aufgabe sein - und nimmt die Politik in die Verantwortung. Zwar sei das Thema im aktuellen Kooperationsvertrag aufgeführt, doch zeichne sich bereits jetzt ab, dass die Finanzierung "auf einem extrem niedrigen Niveau" ablaufen wird.

Da Deutschland anderen europäischen Ländern bei der Suizidprävention hinterherlaufe, sei es an der Zeit für "viel deutlichere Investments". Der Gesetzgeber dürfe sie nicht nur inhaltlich befördern, sondern müsse vor allem gezielt Mittel zur Verfügung stellen. "Eine gelingende Suizidprävention ist nicht zum Nulltarif zu haben", warnt Lindner.

Als konkrete Maßnahme, die der Bund finanzieren müsse, nennt er zunächst ein rund um die Uhr leicht erreichbares Hilfetelefon für Menschen in suizidalen Krisen sowie für An- und Zugehörige. Außerdem brauche es in Deutschland eine flächendeckende Förderung von "Face-to-Face"-Hilfen und internetbasierten Angeboten. "Es gilt, konkrete Hilfen für suizidgefährdete Menschen bereitzustellen, damit nicht der Weg in den Tod, sondern in das Leben möglich wird."

Alle 51 Minuten ein Suizid

Alle fünf Minuten ein Suizidversuch, alle 51 Minuten ein Suizid: So ist laut Naspro das Lagebild in Deutschland. Im Jahr 2023 entfielen 72,6 Prozent aller Suizide auf Männer (7478 in absoluten Zahlen) und 27,4 Prozent auf Frauen (2826). Da die Auswertung des Statistischen Bundesamtes nur die Kategorien "männlich" und "weiblich" vorsieht, gibt es keine Angaben zu Menschen, die sich nicht dem binären System zuordnen.

Die deutliche Mehrheit aller Suizide fand in der Altersgruppe der über 50-Jährigen statt. 72 Prozent der durch Suizid verstorbenen Männer (5389) und 79 Prozent der Frauen (2235) hatten das 50. Lebensjahr überschritten. Im Jahr 2023 betrug das durchschnittliche Alter einer durch Suizid verstorbenen Person 61,5 Jahre.

Neben Männern und Menschen im höheren Lebensalter ist das Suizidrisiko laut Naspro außerdem erhöht bei Menschen mit gleichgeschlechtlicher Orientierung und jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Traumatische Erlebnisse wie der Verlust wichtiger Bezugspersonen, schwere Erkrankungen, Veränderungen von Lebensumständen wie etwa der Verlust des Arbeitsplatzes oder schon die Angst davor können bei vulnerablen Personen Auslöser für Suizidgedanken sein.

Auch bei Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Psychosen, Suchterkrankungen, Persönlichkeitsstörungen oder Depressionen ist das Suizidrisiko erhöht. Es sei jedoch wichtig zu betonen, dass Suizidgedanken nicht zwangsläufig auf eine vorliegende psychische Erkrankung schließen lassen.

Egal, welche Gründe und Auslöser vorliegen, so die Expertinnen und Experten - "Suizidgefährdung ist behandelbar." Doch damit Betroffenen geholfen werden kann, muss nicht zuletzt ein gesellschaftliches Klima geschaffen werden, "in welchem die Suizidproblematik wahr- und ernstgenommen wird."

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen