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"Ich kann das nicht mehr" Wenn Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen

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Auch nach schweren Zerwürfnissen ist oft eine Wiederannäherung möglich.

Auch nach schweren Zerwürfnissen ist oft eine Wiederannäherung möglich.

(Foto: IMAGO/imagebroker)

Ein Sohn knallt die Tür hinter sich zu und kommt dann einfach nicht mehr. Eine Tochter will nach einem hitzigen Telefonat die Mutter nicht mehr sehen. Kontaktabbrüche zu den Eltern sind inzwischen sehr weit verbreitet und extrem belastend.

Keine Besuche, keine Anrufe, stattdessen unbeantwortete Nachrichten, ungeöffnete Briefe, manchmal sogar die Information: Unbekannt verzogen. Entfremdung oder englisch Estrangement wird im angloamerikanischen Raum schon als stille Epidemie gesehen. Gemeint ist der Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kindern. "Wir reden hier nicht über Einzelfälle, sondern über eine wirklich große Entwicklung", sagt Claudia Haarmann ntv.de. Sie hat über das Phänomen das Buch "Kontaktabbruch in Familien - Wenn ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich scheint" geschrieben, nachdem sie in ihrer psychotherapeutischen Praxis immer öfter damit konfrontiert wurde.

Denn Kontaktabbrüche zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern sind längst keine Seltenheit mehr. In der Pairfam-Studie, einer langjährigen Untersuchung des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften mit über 10.000 Teilnehmenden in Deutschland, zeigte sich das schon in den 2010er Jahren. Sieben Prozent der Befragten gaben damals an, keinen Kontakt zum Vater zu haben, zwei Prozent keinen zur Mutter. Emotional distanziert fühlten sich noch mehr. Innerhalb von zehn Jahren berichtete fast jede zehnte befragte Person über eine Phase der Entfremdung zur Mutter, jede fünfte zum Vater. Neuere Zahlen gibt es nicht, doch es wird vermutet, dass sie inzwischen noch höher ausfallen dürften.

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Der Kontaktabbruch ist oft das Resultat eines langen Leidenswegs, auch wenn das vor allem für die Zurückbleibenden zunächst schwer zu glauben ist. Die Gründe, warum sich Kinder von den Eltern lossagen, sind vielfältig und haben doch häufig ein ähnliches Muster. Haarmanns These ist, dass die mehrheitlich erwachsenen Kinder "in der Familienthematik aufräumen". Die Generation der Menschen, die heute zwischen 20 und 45 Jahren alt sind, sei es gewohnt, über Gefühle zu sprechen. "Sie benennen, was problematisch ist, was fehlt", sagt die erfahrene Therapeutin.

Zu wenig Autonomie

Doch in vielen Familien herrsche Kommunikationslosigkeit, weil die Elterngeneration viel weniger gelernt hat, über Gefühle und Strukturen zu sprechen. Das Ergebnis ist häufig ein riesiges Nichtverstehen. "Kein Kind bricht den Kontakt nur aus Spaß ab oder weil das gerade mal angesagt ist", so Haarmann. "Dahinter stecken starke persönliche Problematiken."

Dabei geht es selten um Missbrauch oder schwere psychische Erkrankungen, wie Sucht oder Depression. Die Kinder nennen als Motive eher emotionale Missachtung, fehlende Nähe oder übermäßige Kontrolle, andauernde Konflikte und unaufgearbeitete Verletzungen aus der Kindheit.

"Auch erwachsene Kinder möchten ihren Eltern nicht wehtun, aber so wie sie ist, können sie die Beziehung nicht mehr aufrechterhalten", sagt Haarmann. Dafür sei es wichtig, auf die beiden großen Säulen der Eltern-Kind-Beziehung zu schauen. Die eine ist Nähe, Sicherheit, Halt und Geborgenheit, die andere Respekt und Autonomie. Fehlte es früheren Generationen eher an Liebe und Nähe, wird heute immer öfter ein Zuviel davon zum Problem. Denn das kollidiert mit den Autonomiebedürfnissen junger Erwachsener.

Haarmann hört häufig ähnliche Beschreibungen: "Die wollen immer hören, wie es mir geht. Wir sollen uns nah sein. Da hat Familie so ein Gewicht. Ich kann das nicht. Es ist mir zu viel. Ich möchte meins machen." Frühere Generationen haben diese Ablösung als normal und erstrebenswert angesehen. Gesellen gingen beispielsweise auf die Walz und durften sich dem Heimatort nicht nähern. Ein eigenständiges Leben des Nachwuchses wurde als Erfolg angesehen, so wie bei Vogelkindern, die selbst flügge werden.

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Heute hingegen halten viele Eltern an einer beinahe romantischen Familienvorstellung fest. "Je unwirtlicher und bedrohlicher das Außen empfunden wird, umso größer ist die Sehnsucht, dass es im Inneren doch Halt und Sicherheit gibt", beschreibt Haarmann dieses Bedürfnis nach einer heilen und intakten Familie. Ihre These ist, dass diese Eltern selbst einen Mangel in sich haben, ein Defizit, das aus der eigenen Kindheit stammt. "Daraus speist sich das Bedürfnis - wenn ich mal Familie habe, dann muss das ganz gut werden." Das Pendel zwischen Autonomie und Nähe schlägt bei den Eltern zu weit in Richtung Nähe aus, während die Kinder mehr Autonomie brauchen.

Zutrauen und Respekt

Aber was ist aus dem Grundsatz geworden, dass man Vater und Mutter ehren soll? Haarmann erinnert sich an eine junge Frau, die ihr sagte: "Solange meine Eltern nicht im Entferntesten das ehren und respektieren, was ich ausmache, was mir wichtig ist, kann ich sie nicht ehren oder ihnen dankbar sein." Viele Mütter und Väter wiederum identifizieren sich stark damit, dass sie die Kinder unterstützt und begleitet haben. Dahinter steht die meist unausgesprochene Hoffnung, für Kompromisse oder Verzicht etwas zurückzubekommen. Wenn das nicht geschieht, erleben sie das als enttäuschend, kränkend oder auch zutiefst verstörend und traurig. Nicht wenige dieser Eltern werden in ihrem Selbstbild erschüttert, eine gute Mutter oder ein guter Vater gewesen zu sein. Doch darum geht es meist gar nicht.

Haarmann rät den ratsuchenden und oft sehr verzweifelten Vätern und Müttern, von Überbehütung und einem Überangebot an erdrückender Liebe auf Förderung umzuschwenken. "Es geht um das Signal: Du schaffst das, du kriegst das hin. Ich lasse dir die Zeit, dass du das tust und dass du dich so entwickeln kannst, wie du dich entwickeln möchtest." Wenn es zu einem Austausch kommt, sieht die Therapeutin darin eine Chance zuzuhören und erstmal alle möglichen Einwände für sich zu behalten. "Wenn sofort ein Aber kommt, fühlt sich das erwachsene Kind wieder nicht ernst genommen."

Nur selten ist der Kontaktabbruch wirklich endgültig. Vielen Eltern gelingt es, Verantwortung für ihren Teil der Beziehung zu übernehmen und ihren Kindern auf Augenhöhe zu begegnen. Die Kinder wiederum sind nach einer Zeit, in der sie ihren Selbstwert aufbauen konnten, in sich gestärkt und können dann die Eltern aus der Distanz eher auch als verletzliche Menschen sehen. Das geht über die Vater- oder Mutter-Rolle hinaus.

Die Zeit des unterbrochenen Kontakts ist bei allem Schmerz für die Eltern auch eine Möglichkeit, sich zu fragen, was sie selbst über elterliche Liebe gelernt haben und welchen Einfluss das auf ihr Elternsein hatte. "Wenn sie verstehen können, wie es ihrem Kind ergangen ist, weil es ihnen selbst so ergangen ist, dann kann Entspannung einkehren. Verständnis bedeutet auch, aus der Vorwurfshaltung herauszukommen und die Zusammenhänge zu verstehen."

Quelle: ntv.de

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