Bomben auf Kliniken Ärzte ohne Grenzen beklagt Horrorjahr
16.06.2016, 14:31 Uhr
Im Abschiebelager Moria auf Lesbos sind die Ärzte ohne Grenzen nicht mehr tätig - aus Protest gegen das EU-Türkei-Abkommen.
(Foto: REUTERS)
Kriegsparteien weltweit missachten humanitäre Regeln. Millionen Syrer werden belagert, sind unterversorgt oder auf der Flucht. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen zieht ein verheerendes Fazit für 2015 und fällt über die EU ein vernichtendes Urteil.
Für eine Hilfsorganisation ist es ein Extremfall, wenn sie keine Hilfe mehr anbieten kann. Für Ärzte ohne Grenzen war 2015 gleich in mehrfacher Hinsicht ein extremes Jahr. "Stellen Sie sich vor, es ist Krieg – und wir können nicht hin", sagte der Vorstandsvorsitzende der Organisation, Volker Westerbarkey, bei der Vorstellung des Jahresberichts.
Das galt besonders für Syrien. Angesichts von Millionen Vertriebenen und Belagerten, weitgehend zerstörter medizinischer Infrastruktur und Millionen Verletzten müsste in dem Bürgerkriegsland laut Westerbarkey eigentlich der größte Einsatz der Geschichte von Ärzte ohne Grenzen laufen. Doch große Gebiete sind für die Ärzteteams nicht zugänglich – entweder hindert sie daran die syrische Regierung oder die Anwesenheit der Terrormiliz "Islamischer Staat".

Ende April zerstören Luftangriffe die letzte Kinderklinik von Aleppo. Sie wurde von Ärzte ohne Grenzen betrieben.
(Foto: dpa)
Wo Ärzte ohne Grenzen im vergangenen Jahr trotz aller Widrigkeiten noch Kliniken unterhielt und Mitarbeiter beschäftigte, gab es ein ungekanntes Ausmaß an völkerrechtswidrigen Angriffen. "Die Regeln des Krieges werden zunehmend gebrochen", beklagte Westerbarkey. 75 Einrichtungen seien insgesamt 106 mal bombardiert worden, davon entfielen auf Syrien allein 94 Angriffe auf 63 Einrichtungen. 23 Mediziner seien getötet und 58 verwundet worden. Der schwerste Angriff ereignete sich im nordafghanischen Kundus, wo im Oktober 2015 bei einem amerikanischen Luftangriff 28 Patienten und 14 Mitarbeiter im dortigen Krankenhaus starben.
Auch in diesem Jahr hat die Organisation schon Dutzende Mitarbeiter verloren. In Syrien starben bei einem Angriff auf ein Krankenhaus in der Provinz Idlib 25 Menschen, darunter 9 Mitarbeiter der Organisation, im April zerstörten Bomben das Kinderkrankenhaus von Aleppo und töteten neben zahlreichen Patienten den letzten Kinderarzt der Stadt. "Was in Syrien normal geworden ist, darf niemals normal sein", sagte der Vorstand mit Blick auf die gezielten Angriffe auf medizinische Einrichtungen, die geradezu zur Kriegsroutine geworden seien. Auch im Jemen, im Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik gab es Angriffe auf Patienten und Ärzte. Verantwortlich seien "alle: bewaffnete Gruppen genauso wie Regierungstruppen. Ja, sogar Regierungen".
Nie so aktiv auf europäischem Boden
Als direkte Folge der syrischen Katastrophe beschäftigte die Ärzte ohne Grenzen auch die Fluchtwelle nach Europa. In bisher ungekanntem Ausmaß mussten die humanitären Helfer dafür sogar in EU-Staaten aktiv werden. In allen Bereichen verzeichnete die Organisation traurige Rekorde. Mit drei Schiffen retteten die Ärzte ohne Grenzen nach eigenen Angaben fast 26.000 Schiffbrüchige vor Libyen und der griechischen Insel Lesbos. 100.000 Menschen seien medizinisch behandelt worden, 43.000 in Griechenland, 40.000 auf dem Balkan und 4400 in Italien.
Der Geschäftsführer der deutschen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, Florian Westphal, betonte, dass humanitäre Hilfe ihren eigenen Grundsätzen folge und nicht damit zu tun habe, ob ein Kranker oder Schiffbrüchiger später als Flüchtling oder Asylbewerber anerkannt werde. "Dass diese Prozesse folgen, ist uns klar, spielt aber für die Erste Hilfe überhaupt keine Rolle", so Westphal. Sorge bereiten ihm die 57.000 Migranten in diversen Lagern in Griechenland, die jetzt aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden seien. Europäischer Standards unwürdig findet er, dass es dort zu wenige Toiletten und Duschen gibt und dass mitunter Lebensmittel und sogar Säuglingsnahrung fehlen.
Zynischer EU-Türkei-Deal
Für die EU und ihren Flüchtlingspakt mit der Türkei haben die Ärzte ohne Grenzen nur Kritik übrig. "Jeder Mensch muss das Recht haben, vor Gewalt aus Konfliktgebieten zu fliehen", sagte Westphal. Genau das torpedierten aber die EU und inzwischen auch Deutschland in führender Rolle. Bundeskanzlerin Angela Merkel sei mit dem EU-Türkeiabkommen gar "zur Vorreiterin der Aussperrung von Schutzsuchenden aus Europa geworden".
Im März verließ Ärzte ohne Grenzen aus Protest den EU-Hotspot Moria auf Lesbos, wo laut Westphal "fast ausnahmslos Kriegsflüchtlinge" behandelt worden seien "wie Strafgefangene". Zynisch nannte er, dass nur Syrer eine Chance auf Umsiedlung in die EU hätten, dafür aber grundsätzlich ein anderer sein Leben zuvor auf dem Mittelmeer riskiert haben müsse. Dabei gebe es de facto "für Flüchtende heute keine Möglichkeit mehr, legal in die EU einzureisen".
Für die humanitären Helfer ergeben sich daraus neue Probleme. Wenn die Türkei ihre Grenzen für Syrer ihrerseits dichtmacht, stranden Flüchtlinge in umkämpften und schwer zugänglichen Gebieten, wie diesen Februar im syrischen Azaz. Bisher haben die Ärzte ohne Grenzen für 31,5 Millionen Euro Hilfe für Menschen auf der Flucht nach Europa geleistet. Die deutsche Sektion der Organisation finanziert sich zu 93 Prozent aus privaten Spenden und Zuwendungen. Wegen "der gravierenden Missachtung humanitärer Grundsätze durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten" will die Organisation in Zukunft ganz auf Gelder von diesen verzichten.
Quelle: ntv.de