
"Wir werden diese Menschen, die zum größten Teil sogar selbst schuld sind, behandeln müssen", klagt Lauterbach über ungeimpfte Corona-Kranke.
(Foto: picture alliance/dpa)
Bei der ersten Lesung der verschiedenen Impfpflicht-Vorschläge geht es leidenschaftlich zu im Bundestag. Doch die Lager, die sich nicht strikt an die Fraktionsgrenzen halten, sind tief gespalten. Bundesgesundheitsminister Lauterbach kämpft entschlossen auf aussichtsloser Position.
Ganz am Ende, nach mehr als einstündiger Debatte mit 17 Rednern zu den Vorschlägen für und wider verschiedener Modelle einer Corona-Impfpflicht, meldet sich der Bundesgesundheitsminister zu Wort. Die Rede ist ein letztes Aufbäumen im Ringen um ein schon so gut wie verlorenes Projekt. Es sei beinahe zu 100 Prozent sicher, dass im kommenden Herbst die Pandemie in der einen oder anderen Form mit Wucht zurückkehre, in bekannter oder neuer Variation, sagt Karl Lauterbach bei der ersten von drei Lesungen der Impfpflicht-Anträge. "Im Herbst werden wir erneut die Frage stellen müssen: Wird unser Gesundheitssystem überlastet?", kündigt der SPD-Politiker an. Er benennt auch gleich die seiner Ansicht nach Schuldigen an dieser sich ankündigenden Misere - die Ungeimpften: "Dann wird erneut das ganze Land in der Geiselhaft dieser Gruppe von Menschen sein."
Der SPD-Minister ist ebenso wie Bundeskanzler Olaf Scholz und 240 weitere Unterzeichner des Gruppenantrags für eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren von der Notwendigkeit solch eines Gesetzes überzeugt. Und doch wird er es voraussichtlich nicht bekommen, weil es eben nicht zur Mehrheit reicht. "Die allgemeine Impfpflicht ist tot", ruft CDU-Politiker Sepp Müller. Und daran tragen Lauterbach und Scholz eine nicht unwesentliche Mitverantwortung, wie ihnen vor allem die Unionsabgeordneten in ihren Wortbeiträgen genüsslich vorwerfen.
Die zwei "Paralleluniversen" der Ampel
Schließlich hätte ein anderes Vorgehen auf dem Weg zu einem Gesetzentwurf die notwendige Mehrheit absichern können, wäre die Ampelkoalition in der Corona-Politik nicht derart gespalten. Den einen Regierungsvorschlag zur Impfpflicht gibt es nämlich nicht. Stattdessen haben sich die Abgeordneten von SPD, Grünen und FDP aufgeteilt in Unterstützer der Impfpflicht ab 18 Jahren, einer optionalen Impfpflicht ab 50 Jahren und einer Ablehnung jedweder Impfpflicht. Hinzu kommt, dass die von der Ampel beschlossene weitgehende Aufhebung der Corona-Schutzmaßnahmen in scharfem Kontrast steht zu der von Lauterbach angemahnten Dringlichkeit einer Corona-Immunisierung in der gesamten Bevölkerung.
"Man hat den Eindruck, bei diesen beiden Themen bewegen sie sich in zwei Paralleluniversen", legt Christdemokrat Günter Krings den Finger in die Ampelwunde. Dass Lauterbach um des lieben Koalitionsfriedens willen der FDP bei der Aufhebung der Maskenpflicht nachgegeben hat, sorgt bei SPD und Grünen für immensen Frust. Artikuliert wird der aber von der Opposition: "Ich kann es beim besten Willen nicht nachvollziehen, was Sie sich hier überlegt haben", sagt etwa die CSU-Abgeordnete Andrea Lindholz. Dieselben Abgeordneten, die mit ihren Stimmen die Maskenpflicht aufgeben wollen, "sprechen sich hier in großen Teilen für eine sofortige Impfpflicht aus". In der Gesundheitspolitik herrsche in der Ampel "wirklich Chaos", attestiert Lindholz.
Lauterbach zerpflückt Unionspapier
Die Union kann so die Ampel vor sich hertreiben, ohne selbst wirklich konsistent aufzutreten. Deren Ministerpräsidenten forderten nämlich selbst eine Impfpflicht ab 18 Jahren, erinnert Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte, der als einziger Landeschef das Wort ergreift. Die Unionsfraktion wirbt dagegen für eine stufenweise Impfpflicht, die erst bei Auftreten einer neuen, aggressiveren Corona-Variante scharfgestellt werden soll. Beharrt die Union auf ihrem Vorschlag, der anders als die Impfpflicht ab 18 und ab 50 Jahren kein ausgearbeiteter Gesetzentwurf ist, kommt am Ende womöglich gar keine Impfpflicht zustande. Das scheint auch nicht im Interesse der meisten Unionspolitiker zu sein.
"Der Vorschlag, den Sie machen, der würde dafür sorgen, dass wir bei jeder weiteren Welle, die noch kommt, zu spät kommen", schleudert Lauterbach CDU und CSU entgegen. Wer im Herbst sicher sein wolle, müsse in den kommenden Wochen und Monaten impfen.
"Die Impfung mit den jetzigen Impfstoffen gibt uns doch nicht die Gewähr dafür, dass wir im Herbst für eine Variante, die wir momentan überhaupt noch nicht kennen, mit einem Impfstoff, den wir überhaupt noch nicht haben, aus dieser Dauerschleife herauskommen", sagt der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Tino Sorge. Lauterbach widersprich: Corona-Viren seien "genetisch zu weit über 90 Prozent identisch, daher wirken auch alle Impfstoffe" gegen Tod und schwere Erkrankungen. Nur darum gehe es.
Die Jüngste wird laut
"Vorsorge bedeutet Denken in Eventualitäten", bringt sich mit Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck ein zweites Regierungsmitglied in die Debatte ein. "Die Freiheitsinterpretation der Wenigen darf nicht zur permanenten Freiheitseinschränkung der Vielen führen. Das darf nicht der Deal sein", mahnt Habeck. "Bringen wir diese Pandemie endlich hinter uns!"
Auffällig in der Debatte ist, dass vor allem die vielen jüngeren Abgeordneten aus SPD und Grünen leidenschaftlich für eine Impfpflicht ab 18 Jahren streiten. Schüler und junge Menschen hätten in den vergangenen beiden Jahren auf zahlreiche Freiheiten verzichtet, um die Älteren und Gefährdeten zu schützen, argumentiert Emilia Fester, Grüne und jüngste Bundestagsabgeordnete. "Ich fordere jetzt den Payback", ruft sie. "Es muss hier um die Impfpflicht für alle Erwachsenen gehen, nicht ab irgendeiner willkürlichen Altersgrenze, denn alle Menschen, egal welchen Alters, übertragen das Virus stärker, wenn sie ungeimpft sind."
Wie persönlich ist die Impfentscheidung?
Der Allgemeinmediziner Herbert Wollmann, der die Impfpflicht ab 50 Jahren und eine Beratungspflicht für alle Bürger unterstützt, argumentiert: "Die Jüngeren sind nicht die, die unser Gesundheitssystem belasten." Die nach Alter abgestufte Impfpflicht sei daher eine Frage der Verhältnismäßigkeit.
Die Impfpflicht-Gegner führen ins Feld, dass eine Impfung nicht vor Ausbreitung und Ansteckung des Virus schützt, sondern eben nur vor der individuellen Gefährdung, nämlich vor schwerer Erkrankung und Tod. "Lassen Sie mich noch einmal klarstellen: Die Entscheidung über das eigene Leben liegt bei einem selbst", sagt etwa Manuel Höferlin von der FDP, der zur Gruppe der Impfpflicht-Gegner um Wolfgang Kubicki gehört. Er lässt dabei aus, dass diese persönliche Entscheidung sehr wohl Konsequenzen für die Mehrheit der Geimpften hat, wenn Krankenhäuser zur Behandlung der Corona-Fälle Operationen verschieben und Akutfälle wie Herzinfarkte nicht optimal versorgen können.
Linken-Veteran Gregor Gysi zweifelt seinerseits an, dass ein Impfpflichtgesetz zwar Geldbußen vorsehen, aber Haftstrafen ausschließen kann. Das nämlich haben die Impfpflichtbefürworter vor. Da seien doch Verfassungsklagen derjenigen vorgezeichnet, die wegen nicht gezahlter Geldstrafen ins Gefängnis müssen, mokiert sich Rechtsanwalt Gysi.
Endet die Debatte im April?
Erstaunlich an der Debatte ist, dass sich tatsächlich Abgeordnete aus fast allen Fraktionen in den verschiedenen Vorschlägen wiederfinden (mit weitgehender Ausnahme der AfD, deren Abgeordnete die Impfung als gefährlicher einschätzen als die Krankheit, oder das zumindest vorgeben). Damit trägt die Debatte tatsächlich zur Meinungsbildung von Volk und Abgeordneten bei.
Mit 416 Abgeordneten liegt die Ampel recht deutlich über der Mehrheit von 369 Stimmen. Sollte Anfang April über das Gesetz über die Impfpflicht ab 18 abgestimmt werden und absehbar durchfallen, könnten sich genügend Abgeordnete hinter der optionalen - erst im Sommer scharf zu stellenden - Impfpflicht ab 50 Jahren versammeln. Diese hat offiziell 45 Unterstützer, macht zusammen rund 300 Zusagen. Es könnte also knapp gut ausgehen aus Ampelperspektive, zumal es zwischen beiden Lagern noch Verhandlungsspielraum für eine Kompromisslösung gibt. Dass aber eine knappe Mehrheit für so einen weitgehenden Beschluss ausreichend ist, um einen Haken hinter die Debatte zu machen, ist unwahrscheinlich. Die Impfpflichtbefürworter brauchen Unionsstimmen.
Quelle: ntv.de