Politik

Einkommen, Ausländer, Alter Was die Wahlkreisdaten verraten

00:00
Diese Audioversion wurde künstlich generiert. Mehr Infos
4c6f3c55794ab7b0a5d8a56fbd9e08b2.jpg

Die Prognosen zur Bundestagswahl zeichnen Bilder in sehr unterschiedlichen Farben. Gibt es regionale Besonderheiten, die die Wahlabsichten beeinflussen? Eine datengetriebene Spurensuche in den 299 deutschen Wahlkreisen.

Der Befund ist nicht neu, wirkt beim Blick auf die Prognosen zur Bundestagswahl aber dennoch beeindruckend: In Deutschland sind die politischen Strömungen und der örtliche Rückhalt der Parteien regional höchst unterschiedlich verteilt. Die Unterschiede zwischen Nord und Süd, Ost und West gehen weit über die bisher bekannten Trennlinien hinaus.

Sicher: Junge Menschen in den großen Städten wählen anders als ältere Mitbürger auf dem Land, Arbeiter tendenziell anders als Angestellte im öffentlichen Dienst oder als Studenten und Beamte. Bei der prognostizierten Verteilung der Erststimmen stechen jedoch nicht nur die großen Ballungsräume ins Auge. Überraschend deutlich hebt sich in der Einfärbung nach Parteipräferenzen auch der einstige Verlauf der innerdeutschen Grenze ab.

Liegt das an lokal gewachsenen Überzeugungen? Oder an spezifischen Problemen in den verschiedenen Regionen? Oder gibt es andere Faktoren, wie etwa demografische Besonderheiten? Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung wirkt das Land in der Wahlkreisprognose fast wie zweigeteilt. Auf der Suche nach Antworten lohnt ein Blick in die amtlichen Strukturdaten: Wie unterscheidet sich die wählende Bevölkerung in den deutschen Wahlkreisen?

Eine simple Ursache für den Verlauf der Grenzlinien liegt in den Händen der Gesetzgebung: Die Aufteilung Deutschlands in Wahlkreise folgt einem genau festgelegten Verfahren. Maßstab für die Einteilung in die bundesweit insgesamt 299 Wahlkreise sind die regionalen Einwohnerzahlen und die Bevölkerungsanteile der Bundesländer.

Die Wahlkreise sollen, vereinfacht gesprochen, ähnlich groß sein. Weicht ein Wahlkreis durch Zuzug oder andere Entwicklungen "mehr als 25 vom Hundert nach oben oder unten" von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl aller Wahlkreise ab, so ist "eine Neuabgrenzung vorzunehmen", wie es im Bundeswahlgesetz heißt. Zusätzlich steht dort auch wörtlich die Vorgabe, dass "die Ländergrenzen" sowie "nach Möglichkeit" auch die Grenzen von Gemeinden, Kreisen und kreisfreien Städten "einzuhalten" sind. Somit schmiegt sich das Linienmuster der Wahlkreise in der Mitte Deutschlands zwangsläufig auch an die Ränder der Bundesländer und damit auch an die einstige innerdeutsche Grenze an.

Damit wäre der Verlauf geklärt, nicht aber die politische Färbung. Warum fällt das Wahlverhalten der Bundesbürger zum Beispiel in der Mitte Deutschlands in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander so unterschiedlich aus? Die Suche nach möglichen Erklärungsansätzen führt naturgemäß tiefer in die Gegebenheiten vor Ort.

Daten aus Beständen des Statistischen Bundesamtes und anderen Quellen erlauben einen genaueren Blick auf regionale Unterschiede zwischen Wahlkreisen in Ost und West. Sind die Menschen dort durchschnittlich älter oder jünger? Sind es wirtschaftliche Sorgen oder das Einkommen? Oder sind die Wohnsituation oder gar der Ausländeranteil für die Stimme für die eine oder die andere Partei von Bedeutung?

Ein erstes Ergebnis: Die Lage am Arbeitsmarkt scheint bundesweit keinen eindeutigen Einfluss auf das regionale Wahlverhalten auszuüben. Die zehn Wahlkreise mit der höchsten Arbeitslosenquote liegen im hier angesetzten Vergleichsmonat November 2024 allesamt im Westen, Spitzenreiter ist Wahlkreis 122 Gelsenkirchen mit 14,8 Prozent. Zum Vergleich: In Thüringen dagegen lag die landesweit berechnete Quote im gleichen Zeitraum bei 6,0 Prozent, in Sachsen bei 6,5 Prozent.

Der Wahlkreis mit dem größten Erwerbslosenproblem im Osten war den Daten der Bundesagentur für Arbeit zufolge zuletzt Chemnitz (Wahlkreisnummer 161) mit 9,0 Prozent. Berlin nicht eingerechnet, stellte sich die Lage am regionalen Arbeitsmarkt im zurückliegenden Herbst in 16 westdeutschen Wahlkreisen von Gelsenkirchen über Bremen, Mönchengladbach oder Saarbrücken schlimmer dar. Trotzdem liegen dort jeweils andere Parteien bei den Erststimmen vorn. Auf die Situation am Arbeitsmarkt allein kann die Zweiteilung des Bundesgebiets also keinesfalls zurückgehen. Spielt vielleicht die Bevölkerungsdichte eine Rolle?

Auch hier fällt das Ergebnis auf den ersten Blick negativ aus: Die durchschnittliche Anzahl der Einwohner je Quadratkilometer bewegt sich in den innerstädtischen Wahlkreisen zwar naturgemäß in sehr viel höheren Bereichen als auf dem Land. Ein klares Muster lässt sich daraus aber nicht ableiten: Kandidaten der SPD zum Beispiel liegen längst nicht in allen von Industrie und Arbeiterschaft geprägten Ballungsräumen vorn.

Im Osten befinden sich zwar neun der zehn Wahlkreise mit der geringsten Bevölkerungsdichte und mit den bundesweit umfangreichsten Flächen. Allerdings gibt es auch im Westen ganze Regionen, die bei der flächenbezogenen Einwohnerzahl weit unter den bundesweiten Durchschnitt fallen - ohne eine ähnlich einheitliche politische Färbung aufzuweisen wie im Osten. Die Region mit der höchsten Bevölkerungsdichte ist übrigens der Berliner Wahlkreis 82 "Friedrichshain-Kreuzberg - Prenzlauer Berg Ost". Dort ergab die Berechnung zum Stichtag rund 12.190 Deutsche je Quadratkilometer.

Die Frage, ob die Menschen in einer Region eher links oder rechts wählen, hat offenkundig auch mit dem Thema Migration unmittelbar nichts zu tun. In den ostdeutschen Bundesländern weisen die Wahlkreise - abseits von Berlin - tendenziell niedrigere Ausländeranteile auf als im Westen. Die Auswertung aus den Angeboten der Bundeswahlleiterin baut hier auf Daten der Statistischen Landesämter auf und weist bei den Ausländeranteilen insgesamt eher auf wirtschaftsstärkere Regionen hin als auf etwaige Integrationsprobleme oder Überlastungsreaktionen in den Wahlkreisen.

Bei näherer Betrachtung ist auch das kein Wunder: Die Zahlen erfassen lediglich den Anteil der Einwohner vor Ort, die über eine andere als die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen. Der regionale Ausländeranteil umfasst also nicht nur Menschen aus der Ukraine oder Asylbewerber, sondern mitunter auch besser eingebundene EU-Bürger aus dem europäischen Ausland, wie zum Beispiel die Daten aus dem Umfeld des Bankenstandorts Frankfurt, der Handelsmetropole Hamburg oder der Verlags- und Medienstadt München andeuten.

Die Daten zur regionalen Wirtschaftskraft belegen die Vermutung: Prominente Industriestandorte wie Wolfsburg, Stuttgart oder Ingolstadt ziehen nicht nur Arbeitskräfte aus dem In- und Ausland an. Sie ragen auch in der Rangfolge der wirtschaftsstärksten deutschen Regionen deutlich heraus. Vergleichbar wird die wirtschaftliche Stärke der Regionen durch eine Kennzahl, die Statistiker eigens für die Wahl für jeden einzelnen Wahlkreis berechnet haben. Dafür wird der regionale Beitrag zum deutschen Bruttoinlandsprodukt auf die Wahlkreisgrenzen heruntergebrochen und ins Verhältnis zur Einwohnerzahl gesetzt.

Besonders wohlhabende Regionen wie Düsseldorf, Hamburg und vor allem der Wahlkreis 220, "München-Land", verzerren den Schnitt erheblich nach oben. Dort verzeichnet das Ranking einen rein rechnerischen BIP-Beitrag in Höhe von fast 120.000 Euro je Einwohner. Abgesehen von etwas niedrigeren, aber immer noch ähnlich imposanten Werten in Frankfurt, Düsseldorf und Stuttgart ergibt sich in der Fläche ein vergleichsweise gut durchmischtes Bild: Die wirtschaftlich schwächste Region liegt dieser Aufstellung zufolge sogar klar im Westen. Es ist der Wahlkreis mit der Nummer 20, "Gifhorn - Peine", der beim BIP pro Kopf laut Statistik nur auf 22.800 Euro kommt.

Wie jedoch sieht es bei der demografischen Zusammensetzung in den Wahlkreisen aus? Der stärkste optische Zusammenhang wird in dieser Stichprobe tatsächlich anhand der Altersschichten sichtbar. Das Ergebnis wirkt auf den ersten Blick naheliegend, der demografische Wandel schlägt im Osten bekanntermaßen stärker zu als im Westen, verstärkt durch einen oft jahrzehntealten Trend zur Abwanderung. Die Politik und alle Bemühungen zur Angleichung der Lebensverhältnisse haben es bisher offenbar nicht geschafft, den Fortzug der Jüngeren in den Flächenländern des Ostens aufzuhalten.

Die Wahlkreisprognose zeichnet somit womöglich auch das Bild einer zunehmenden Entmischung der wahlberechtigten Bevölkerung. Eine gut belegbare These lautet: Die jungen, höher gebildeten und beweglicheren Wähler ziehen tendenziell eher in die wirtschaftsstärkeren Regionen als ihre älteren, weniger gut ausgebildeten und unbeweglicheren Nachbarn. Die Städte wachsen, das Land und die strukturschwächeren Regionen gleiten zunehmend in die Überalterung. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Entmischung langfristig auch nicht ohne Folgen für die Zusammensetzung der regionalen Wahlbevölkerung bleibt.

Keine einfachen Antworten möglich

Aber: Handelt es sich beim höheren Seniorenanteil und den Wahlabsichten um eine Kausalität oder nur um einen Scheinzusammenhang? Bundesweit beträgt der Anteil der Senioren - hier gemessen an der Zahl der über 60-Jährigen in der Gesamtbevölkerung - im Schnitt über alle Wahlkreise hinweg 29,9 Prozent. In vielen ostdeutschen Wahlkreisen liegt die Quote deutlich höher. Und besonders bemerkenswert: In der farblichen Abstufung tritt die frühere innerdeutsche Grenze fast ähnlich markant hervor wie auf den Karten zur Wahlkreisprognose.

Ist die Frage damit also schon beantwortet? Einfache Antworten gibt es hier sicher nicht. Einzelne Strukturmerkmale wie das Alter, die Wirtschaftskraft oder die regionalen Perspektiven liefern bestenfalls nur Hinweise. Die Seniorenquote lässt sich mit gewissen Einschränkungen zwar als Indikator für drohende oder bereits bestehende demografische Schieflagen in den deutschen Regionen verstehen. Erklären lassen sich individuelle Wahlabsichten allein damit aber nicht.

Mehr zum Thema

Die Indizien für demografische Veränderungen in der Gesellschaft bilden immerhin eine Spur. Für solide Erkläransätze braucht es sehr viel genauere Studien, die zum Beispiel auch die unterschiedlichen Blickwinkel und vor allem die Lebenserfahrungen der Menschen vor Ort berücksichtigen. Genauere Antworten werden Experten nach der Wahl auch in der repräsentativen Wahlstatistik und weiteren Befragungen suchen.

Die politische Aufteilung Deutschlands nach Farben besteht bisher ohnehin nur auf dem Papier. Die Vorhersage zur voraussichtlichen Verteilung der Erststimmen bestätigt zwar ein Bild, das bereits nach der Europawahl im Sommer 2024 erkennbar war. Die Prognosen der Wahlforscher müssen sich am Wahlsonntag, dem 23. Februar, jedoch nicht zwangsläufig erfüllen. Noch offen ist zum Beispiel, wie viele Wahlberechtigte vor Ort von ihrem Wahlrecht tatsächlich Gebrauch machen - und bei welcher Partei sie ihr Kreuz machen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen