Politik

Blick aus Kiew nach Brüssel Europawahl führt in der Ukraine zu einem Moment der Einigkeit

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Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj im September 2022 in Kiew.

Ursula von der Leyen und Wolodymyr Selenskyj im September 2022 in Kiew.

(Foto: dpa)

Der Ausgang der Europawahl wird in der Ukraine mit Zufriedenheit und Sorge betrachtet. Zufriedenheit, weil die russlandfreundlichen Parteien weiterhin klar in der Minderheit sind. Sorge, weil unklar ist, wie es in Frankreich weitergeht.

Zum ersten Mal hat die Ukraine Europawahlen als EU-Beitrittskandidat verfolgt - mit der Entscheidung der EU-Kommission in der Tasche, dass die Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen erfüllt sind. Unter friedlicheren Umständen hätte dies im Land wohl ein gesteigertes Interesse am Ausgang der Wahl ausgelöst.

So aber stehen die Kampfhandlungen im Vordergrund. Auch die diplomatischen Bemühungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich als die neuen Mehrheitsverhältnisse im Europäischen Parlament. So nahm Selenskyj am D-Day-Jubiläum in der Normandie teil, er besucht die Wiederaufbaukonferenz in Berlin und wird auch am Wochenende am G7-Gipfel in Italien teilnehmen. Von dort reist er zur Friedenskonferenz in die Schweiz.

Trotzdem war das Interesse an der Europawahl auch nicht klein, zumal sie aus ukrainischer Perspektive als richtungsweisend angesehen wurde. Das gilt nicht nur für die Chancen auf einen EU-Beitritt, sondern auch für die Zukunft der westlichen Unterstützung. Generell waren die Ukrainer von Anfang an misstrauisch, ob der Westen seine "As long as it takes"-Formel auch wirklich ernst meint: Westliche Politiker von US-Präsident Joe Biden bis zum deutschen Kanzler Olaf Scholz betonen immer wieder, dass die Ukraine "so lange wie nötig" unterstützt werden soll.

Die lange Verzögerung der US-Hilfen verstärkte dieses Misstrauen noch, aber auch die Tatsache, dass die Entscheidungen zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sowie zur Verabschiedung eines Finanzpakets für die nächsten vier Jahre auf EU-Ebene ebenfalls verspätet kamen. Zumal es mit der Slowakei nun neben Ungarn eine weitere europäische Regierung gibt, die Beschlüsse für die Ukraine zu blockieren droht.

Da sind sogar Selenskyj, Poroschenko und Klitschko einer Meinung

Mit Blick auf den Sieg der Europäischen Volkspartei (EVP) um Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gab es sogar einen seltenen Moment der Einigkeit zwischen Selenskyjs Partei Diener des Volkes, der Partei Europäische Solidarität seines Vorgängers und politischen Erzrivalen Petro Poroschenko sowie der Udar-Partei des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko. Sowohl Europäische Solidarität als auch Udar haben bei der EVP einen Beobachterstatus und schickten daher offizielle Gratulationen. Diener des Volkes gehört eigentlich zur liberalen Allianz der Liberalen und Demokraten in Europa (ALDE). Selenskyj unterhält aber enge persönliche Beziehungen mit von der Leyen, die mehrfach die Ukraine während der vollumfänglichen russischen Invasion besucht und eine starke Rolle bei der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen gespielt hat - und die zu den beliebtesten ausländischen Politikern überhaupt in der Ukraine gehört. Ihre Wiederwahl würde in Kiew viele Akteure freuen, sollte es dazu kommen.

"Die Wahlergebnisse sehen insgesamt eher positiv und ermutigend aus", betonte Oleksandr Mereschko, der Vorsitzende des Außenausschusses des ukrainischen Parlaments. "Die Erwartung, dass es zu einem großen Triumph der mit Russland assoziierten extrem rechten und extrem linken Kräfte kommen würde, hat sich nicht erfüllt", so der Abgeordnete der Partei Diener des Volkes. Dass die EVP, zu der auch CDU und CSU gehören, die meisten Stimmen erhalten habe, sei ein weiteres Plus. "Dass in Deutschland die AfD mehr Stimmen erhielt als einige unsere Verbündeten wie die Grünen, ist dagegen schon bedauerlich." Doch wenn man auf die gesamte Besetzung des Parlaments schaue, dann sei diese "recht proukrainisch und erhöht die Möglichkeiten der Fortsetzung der Ukraine-Hilfen".

Kein Sieg für Putin

"Wladimir Putin hat bei der Europawahl mit einem Sieg gerechnet", kommentierte Ex-Präsident Poroschenko. "Er rechnete damit, dass Europa der Ukraine überdrüssig werden würde, dass Europa seine Werte verraten würde. Und dass Populisten in der Lage sein würden, nicht zuletzt auf Grundlage russischer Gelder und russischer Botschaften, die Niederlage Europas und der Ukraine sicherzustellen. Das ist nicht gelungen." Die führende Außenpolitikerin seiner Partei, Iwanna Klympusch-Zinzadse, die im Parlament den Ausschuss für europäische Integration leitet, äußerte jedoch bei aller Freude Sorge über die Zunahme der Vertretung der rechtsradikalen Kräfte im Europaparlament.

Für die Ukraine sei dies eine große Herausforderung, betonte sie. "Diese Herausforderung bedeutet, dass wir unsere Anstrengungen verdreifachen müssen, um systematisch mit dem Europaparlament zu arbeiten - und zwar nicht nur gewissermaßen komfortablen Parteien, sondern auch mit Parteien, die unsere Vision nicht teilen und unsere Bedürfnisse nicht anerkennen. Denn sie werden die Zukunft des Parlaments beeinflussen."

Jaroslaw Jurtschyschyn, Vertreter der Oppositionspartei Stimme und Vorsitzender des Meinungsfreiheitsausschusses der Werchowna Rada, sprach von zwei Tendenzen, die Kiew mit Blick auf Wahlergebnisse im Hinterkopf behalten muss. "Die eine Tendenz ist eben, dass Kräfte gewonnen haben, insbesondere die EVP um Ursula von der Leyen, die uns systematisch unterstützen, und daher haben wir alle Chancen auf eine proukrainische Mehrheit", sagte er. "Zweitens gilt aber: Wenn wir nicht beginnen, entschieden gegen russische Propaganda in Europa zu agieren, werden wir definitiv Probleme haben. Das zeigen die Ergebnisse rechtsextremer Parteien, die weitgehend mit Russland in Verbindung gebracht werden können - vor allem die AfD."

Einige Ergebnisse bereiten Sorge - vor allem der Wahlausgang in Frankreich

Auch auf der Expertenebene wurden die Wahlergebnisse gelassen, aber nicht komplett sorglos wahrgenommen. "Am Ende haben Parteien, die insgesamt mehr oder weniger aufseiten der Ukraine stehen, rund 600 von 720 Sitzen bekommen. Daher wird der Rechtsruck, der bei diesen Wahlen eingetreten ist, unsere Unterstützung in keiner Weise untergraben", schreibt Serhij Sydorenko, der erfahrene Außenpolitik-Journalist und Chefredakteur von "Jewropejska Prawda", des außenpolitischen Ablegers des führenden Nachrichtenportals "Ukrajinska Prawda". "Wenn wir aber auf gesamteuropäischer Ebene von einem moderat guten Ergebnis sprechen können, dann ist die Situation bei einigen einzelnen Ländern völlig anders, was uns Sorgen machen muss."

Konkret meint Sydorenko damit neben den Ergebnissen der AfD in Deutschland und der FPÖ in Österreich auch den Wahlausgang in Polen, wo die antiukrainische Konfederacja mit 12 Prozent den dritten Platz holte. Sorge bereitet ihm auch das Wahlergebnis in Frankreich, denn die Niederlage der Partei von Präsident Emmanuel Macron ist ein beunruhigendes Zeichen - gerade wenn man daran denkt, wie vehement er zuletzt dafür eingetreten ist, die Ukraine stärker zu unterstützen. Aus ukrainischer Sicht erscheinen die vorgezogenen Parlamentswahlen in Frankreich nicht ganz ungefährlich.

Quelle: ntv.de

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