Gädechens sieht Wortbruch "Die Regierung trickst beim Verteidigungshaushalt"
08.09.2023, 10:54 Uhr Artikel anhören
Zu den großen Rüstungsvorhaben, die aus dem Sondervermögen finanziert werden sollen, gehört auch der schwere Transporthubschrauber Chinook.
(Foto: AP Photo/Stocktrek Images)
Deutschland erreicht im kommenden Jahr erstmals das Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Doch die CDU übt dennoch Kritik und fordert mehr Ausgaben für Verteidigung. Der Haushalts- und Verteidigungsexperte Gädechens spricht im ntv.de-Interview von Trickserei und Wortbruch.
ntv.de: Wir haben ein Sondervermögen über 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und der Verteidigungshaushalt wächst - trotzdem üben Sie Kritik. Haben Sie gar keine Geduld?

Ingo Gädechens sitzt seit 2009 für die CDU im Bundestag. Der frühere Berufssoldat vertritt seine Partei im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuss.
(Foto: Tobias Koch)
Ingo Gädechens: Geduld ist eigentlich meine Tugend. Aber in diesem Fall hat man von Anbeginn die Jacke falsch zugeknöpft. Wenn ich den ersten Knopf nicht richtig einknöpfe, komme ich am Ende komplett falsch heraus. Wir hätten eigentlich zu Beginn dieser Wahlperiode schon einen Aufwuchs im Verteidigungshaushalt benötigt.
Also noch vor dem russischen Angriff auf die Ukraine?
Ja. Wir hatten damals schon wachsende Betriebskosten, zum Beispiel in den Kasernen, die wir mit den rund 50 Milliarden Euro, die uns zur Verfügung standen, nicht decken konnten. Dann brach der Krieg aus und der Bundeskanzler hielt drei Tage später am 27. Februar seine Zeitenwende-Rede und kündigte an, die Bundeswehr dauerhaft finanziell ausreichend auszustatten und zusätzlich ein Sondervermögen über 100 Milliarden Euro zur Verfügung zu stellen.
Der erforderlichen Grundgesetzänderung stimmten CDU und CSU dann zu.
Wir haben zugestimmt, dass das Sondervermögen für große Rüstungsvorhaben ausgegeben wird. Sie sollen an- und aus- und endfinanziert werden. Dabei geht es um neue Kampfjets, die F35, den schweren Transporthubschrauber, Marineschiffe und U-Boote. Wir wollten aber genauso, dass der eigentliche Verteidigungshaushalt linear anwächst. Doch dann kamen die 14 Monate Unglückszeit der Verteidigungsministerin Christine Lambrecht. Sie konnte das nicht durchsetzen.
Jetzt wächst der Verteidigungshaushalt um 1,7 Milliarden Euro.
Das reicht bei Weitem nicht aus. Es gab ja einen Tarifabschluss im öffentlichen Dienst, wodurch auch die Soldatinnen und Soldaten mehr Geld verdienen. Allein das kostet mehr als die 1,7 Milliarden.
Die Regierung sagt, die 1,7 Milliarden decken genau diese Lohnerhöhungen.
Man kann es sich schön rechnen. Ich gehe aber davon aus, dass es mehr sein wird. Ich freue mich, dass die Soldatinnen und Soldaten mehr Geld in der Tasche haben. De facto wächst der Verteidigungshaushalt aber nicht. Im Gegenteil. Denn die Betriebs- und Unterhaltskosten steigen weiter. Pistorius streicht daher in anderen Bereichen, etwa beim Invest, das sind fast 66 Prozent, oder 37 Prozent weniger in Forschungs- und Entwicklung.
Deutschland hat den NATO-Partnern immer wieder versprochen, zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Verteidigung auszugeben. Nun reicht der Verteidigungshaushalt dafür nicht aus. Warum nicht das Sondervermögen dafür heranziehen?
Wir müssen zwei Dinge auseinanderhalten: Das Sondervermögen für das Zwei-Prozent-Ziel heranzuziehen, ist vollkommen in Ordnung. Denn was aus dem Sondervermögen finanziert wird, dient der Bundeswehr. Nicht in Ordnung ist, wie die Bundesregierung das Sondervermögen zweckentfremden will, um die riesigen Löcher im Verteidigungshaushalt zu stopfen. Denn das ist der Kern aller Probleme: Der Kanzler hält nicht sein Wort, der Bundeswehr aus dem Kernhaushalt genügend Geld zur Verfügung zu stellen. Daraus resultieren alle Probleme.
Warum wäre die Verwendung des Sondervermögens eine Zweckentfremdung?
Als das Sondervermögen beschlossen wurde, haben wir dazu das Grundgesetz geändert und ein sogenanntes Errichtungsgesetz beschlossen. Darin steht, dass aus dem Sondervermögen große und komplexe Rüstungsvorhaben finanziert werden. Das will die Regierung jetzt ändern, indem sie die Mittel aus dem Sondervermögen auch für Betriebsausgaben, kleinere Beschaffungen oder Forschungsaufträge verwenden will, die eigentlich aus dem regulären Haushalt bezahlt werden müssten. Das ist für mich ein Wortbruch. Der Bundesrechnungshof hat jetzt einen Bericht vorgelegt, der tatsächlich sagt: Das ist nahe an einem Verfassungsbruch. Das ist ein Vorwurf, der seit Montag im Raum steht. Darauf muss das Ministerium antworten. Das wird noch eine muntere politische Diskussion. Einen Verfassungsbruch wollen sich auch die Ampelkoalitionäre nicht vorwerfen lassen.
Selbst mit den Mitteln aus dem Sondervermögen erreicht Deutschland das Zwei-Prozent-Ziel nicht. Das gelingt nur, weil verteidigungsnahe Ausgaben aus anderen Ministerien hinzugerechnet werden, wie Sie mit einer schriftlichen Anfrage aufgedeckt haben.
Ich bin misstrauisch geworden, als ich hörte, wir werden 2024 genau zwei Prozent erreichen. Da dachte ich mir: Genau zwei Prozent? Das ist ja komisch. Wenn sie gesagt hätten, wir kommen auf 1,89, aber die Tendenz geht weiter nach oben, hätte ich es eher geglaubt. Oder wenn sie über zwei gekommen wären. Aber genau zwei? Das kam mir seltsam vor. Mit Verteidigungshaushalt und dem Sondervermögen lagen die Verteidigungsausgaben bei unter 1,7 Prozent des BIP. Um die zwei Prozent zu erreichen, fehlten über 14 Milliarden Euro.
Wo sollen die herkommen?
Dazu haben wir die Frage im Bundestag gestellt. Die Antwort: Verteidigungsnahe Ausgaben aus anderen Ressorts sollen dazugerechnet werden. So sollen 14,5 Milliarden aus den anderen Ressorts hinzukommen. Die Regierung weiß aber noch gar nicht, welches Ministerium wie viel beisteuert. Das soll jetzt erst mit einer Ressortabfrage ermittelt werden.
Es ist aber durchaus üblich, dass verteidigungsnahe Ausgaben aus anderen Ministerien hinzugefügt werden. Dabei geht es ja zum Beispiel um Militärhilfe für die Ukraine.
Eigentlich gilt das als militärische Hilfe ins Ausland und nicht als Verteidigungsausgabe. Wir haben versprochen, zwei Prozent des BIP für unsere Verteidigung auszugeben. Man kann lange darüber diskutieren, ob das nicht auch im weitesten Sinne unserer Verteidigung dient. Aber die Ampel belässt es ja nicht dabei, sie treibt das auf die Spitze. Das geht bis hin zu der Absurdität, dass man auch anfallende Zinsen für Bundesschulden als Verteidigungsausgaben deklariert. Das hat man bisher noch nie gemacht. Die Regierung trickst beim Verteidigungshaushalt.
Würden Sie es wirklich anders machen, wenn Sie regieren würden?
Ich muss sagen, mit zwei Sätzen hatte der Kanzler in seiner Rede am Mittwoch recht. Wir haben wieder Krieg in Europa und müssen den Fokus auf Verteidigung richten. Man hätte jetzt klar sagen müssen: Auch wenn alle sparen sollen, Verteidigung ist die Ausnahme. Die Regierung hätte dann entscheiden müssen, an welcher anderen Stelle sie das Geld einspart. Pistorius hatte zu Recht zehn Milliarden Euro mehr gefordert. Jetzt steht er als Verlierer da. Er ist der einzige Minister, der in der Öffentlichkeit nicht als Totalausfall angesehen wird. Mit diesem Standing hätte er mehr erreichen müssen.
Wenn Deutschland nur mit dem Verteidigungshaushalt das Zwei-Prozent-Ziel erreichen soll, dann müsste dieser 85 Milliarden Euro betragen. Jetzt liegt er bei knapp 52 Milliarden. Wie soll das gehen? Hilft da am Ende nur ein zweites Sondervermögen?
Neue Schulden sind immer der einfache Weg, aber das kann es nicht sein. Wir müssen den Verteidigungshaushalt so gestalten, dass keine riesige Abbruchkante entsteht, wenn das Sondervermögen in wenigen Jahren aufgebraucht ist. Und das war auch die Vereinbarung, als wir das Sondervermögen beschlossen haben: Mit dem Sondervermögen sollten die kommenden Jahre finanziell überbrückt werden, sodass Jahr für Jahr der Verteidigungshaushalt in spürbaren, aber nicht unrealistischen Schritten hätte aufwachsen können. Bloß: Diesen zentralen Teil der Einigung hat der Bundeskanzler einseitig aufgekündigt. Er selbst hat jetzt in seiner Rede schon skizziert, dass wir 2027 oder 2028 eine riesige Lücke im Verteidigungshaushalt haben werden. Er sprach von 25 bis 30 Milliarden Euro. Ich gehe eher von 30 plus aus. Denn zu den neuen Flugzeugen, Schiffen und Hubschraubern gehört ja auch noch eine neue Infrastruktur, etwa neue Hallen für die Flugzeuge.
Aber wo soll das Geld herkommen?
Keiner weiß, wie das in dem Jahr oder bis dahin finanziert werden soll. Und keiner weiß, ob ein Scholz dann noch Bundeskanzler und ein Pistorius noch Verteidigungsminister ist. Mit jedem Haushalt, in dem die Regierung den eigentlichen Verteidigungshaushalt nicht aufwachsen lässt, wird das Schließen dieser riesigen Lücke schwieriger und politisch immer unmöglicher. Denn wenn man über 30 Milliarden Euro von heute auf morgen umschichten müsste, geht das nicht ohne tiefgreifende Einschnitte und Kürzungen. Für mich ist das Politik nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.
Mit Ingo Gädechens sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de