Politik

Gesellschaftlicher Kraftakt Flüchtlinge Diese Aufgaben stellen sich Deutschland

Der erste Schritt: Ein Polizist redet mit einem Flüchtlingsjungen am Münchner Hauptbahnhof.

Der erste Schritt: Ein Polizist redet mit einem Flüchtlingsjungen am Münchner Hauptbahnhof.

(Foto: dpa)

Deutschland ist jetzt ein Einwanderungsland. Das bedeutet Veränderungen, die ein gesellschaftlicher Gewinn sein können - oder in Ghettobildung und Gewalt enden. Der Weg in das Miteinander muss klar abgesteckt sein.

Was kommt auf uns zu? Diese Frage stellt sich in diesen Tagen der Flucht nach Deutschland. 250.000 Asylanträge hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von Januar bis August registriert. Bis zum Jahresende werden es wohl Hunderttausende mehr. Innenminister Thomas de Maizière nennt immer wieder die Zahl von 800.000 Flüchtlingen, die 2015 nach Deutschland kommen werden. Und es ist nicht abzusehen, ob und wann es weniger werden.

Um diese Menschen aufzunehmen, fehlt es noch an allen Ecken und Enden - zuvorderst aber da, wo die Menschen ankommen. Die Flüchtlinge warten derzeit in manchen Städten noch tage- oder wochenlang darauf, in eine Erstaufnahmeinrichtung zu dürfen. Im BAMF, wo sie Asylanträge stellen, sollen die Mitarbeiter fast verdoppelt werden, hat die Große Koalition beschlossen.

Vor Anfang des Jahres wurde etwa jeder zweite Asylantrag angenommen. Bleibt das so, wovon Experten ausgehen, wird Deutschland jedes Jahr Hunderttausende Menschen zusätzlich aufnehmen. Sie alle brauchen eine Wohnung, Erwachsene wie Kinder Bildungsangebote, und besonders wichtig: Arbeit, damit dieses Glück, was der deutschen Gesellschaft derzeit widerfährt, auch greifbar wird. Damit die Flüchtlinge zu Bürgern werden.

Glück ist hier keine Bewertung unter Multikulti-Träumern, sondern schlicht eine gesellschaftlich-ökonomische Bewertung: Seit Jahrzehnten wird in Deutschland das Problem der Überalterung ignoriert. Ohne Zuwanderung in großem Stil wären im Jahr 2050 einer Prognose der OECD zufolge nur noch 1,5 Menschen im arbeitsfähigen Alter auf eine Person im Rentenalter gekommen. Das hätte der Generationenvertrag wohl kaum ausgehalten. Derzeit ist das Verhältnis rund drei zu eins. Die Hilfesuchenden können dieses Problem lösen.

Wenn der Weg dieser Menschen aber nicht vorbereitet wird, kann das Glück sich zu einem unlösbaren Wust an Problemen verdichten; in Parallelgesellschaften, Ghettobildungen und Gewalt enden. Dies zu verhindern, ist die politische und gesellschaftliche Aufgabe, die sich Deutschland stellt.

Erstversorgung und Antragsbewilligung

Bevor Flüchtlinge die Aussicht darauf erhalten, dauerhaft in Deutschland wohnen zu dürfen, müssen sie mehrere Schritte durchlaufen. Wer als Flüchtling oder Asylbewerber anerkannt ist, kann drei Jahre in Deutschland bleiben - vorerst. Danach schauen sich die Behörden die Lage in seinem Heimatland erneut an. Hat sich nichts geändert, kann die Aufenthaltserlaubnis durch eine unbefristete Niederlassungserlaubnis abgelöst werden.

Es gibt auch eine abgestufte Art des Asyls, den "subsidiären Schutz" bei Gefährdung von Leib und Leben, etwa wegen drohender Todesstrafe. Wird er gewährt, bekommt der Antragssteller eine Aufenthaltserlaubnis für 12 Monate. Die Ausländerbehörde kann sie um weitere 24 Monate verlängern. Nach sieben Jahren kann auch hier eine unbefristete Niederlassungserlaubnis erteilt werden.

Bislang braucht das BAMF im Schnitt fast ein halbes Jahr, um den Daumen zu einem Asylantrag zu heben oder zu senken. In der aktuellen Lage ist vor allem eine Zahl klar: Die Anerkennung von Asyl ist in Bezug auf syrische Flüchtlinge fast sicher, sie liegt bei nahezu 100 Prozent. In den ersten vier Monaten des Jahres lehnte das BAMF drei von rund 20.000 Anträgen ab. Es zeigt: Sind die Flüchtlinge in Deutschland, werden viele von ihnen auch bleiben. Aber wo?

Unterbringung und Wohnungsbau

150.000 zusätzliche, menschenwürdige und winterfeste Unterbringungsplätze in Erstaufnahmeeinrichtungen sollen nach Willen der Bundesregierung so schnell wie möglich gebaut werden. Für die Genehmigungen soll es wegen des Zeitdrucks spezielle Regelungen geben. Das würde die Gesamtzahl auf 200.000 erhöhen.

Danach wird es allerdings schwieriger, schnelle Hilfe zu gewährleisten, und das wird vor allem ein Problem für die Städte und Kommunen. Sie müssen abschätzen, wie viel zusätzlicher Wohnraum gebraucht wird, um die Menschen dauerhaft unterzubringen. Es geht um bezahlbaren, zusätzlichen Wohnraum. Von der Planung bis zur Fertigstellung dauert es bei einem Gebäude in Deutschland im Normalfall mehrere Jahre. Diese Zeit hat Deutschland nicht - oder die Mieten werden in die Höhe schnellen.

Bis zu drei Monate wohnen die Antragssteller in Erstaufnahmeinrichtungen, gemäß Königsteiner Schlüssel regional verteilt. So sind die Mitarbeiter des BAMF sicher, dass sie Asylsuchenden zu ihrem Antrag weitere Fragen stellen können. Danach ziehen die Personen in Gemeinschaftsunterkünfte oder eine Wohnung um. Wenn der Antrag bewilligt wurde, entfällt die Residenzpflicht, und die Verteilung auf die Bundesländer ist obsolet. Es ist zu vermuten, dass es dann viele in die Städte ziehen wird.

Die urbanen Wohnungsmärkte sind aber alles andere als üppig bestückt. Schon länger steigen die durchschnittlichen Mieten, in manchen Gegenden zuletzt über 20 Prozent pro Jahr. In Berlin war es innerhalb von zehn Jahren ein Anstieg um 45 Prozent, in München um 27 Prozent. Der seit Jahrzehnten schrumpfende Bestand an Sozialwohnungen macht die Lage nicht besser. Seit dem 1. Juni gilt deshalb die Mietpreisbremse. Was bleibt, ist der mangelnde Wohnraum: Genau den brauchen die Neuankömmlinge.

Bildung für Erwachsene und Kinder

Was die Asylsuchenden aber ebenfalls benötigen, sind Bildungsangebote; und zwar so schnell wie möglich, damit sie sich in der neuen, westlichen Gesellschaft zurechtfinden. Da sind zunächst die Deutschkurse, die normalerweise nur nach angenommenem Asylantrag und zudem berufsbezogen bewilligt werden. Es sollte gelten, dass Flüchtlinge schon vorher Anfängerkurse besuchen können, darunter auch speziell für Analphabeten.

Die seit Jahren existierenden Integrationskurse waren eine erster Hinweis auf ein beginnendes Umdenken. Das System der Abschottung muss in eines der Einbindung von Beginn verwandelt werden. Für die historische Aufgabe ist auch Innenminister Thomas de Maizière verantwortlich - damit sich keine neuen sozialen Brennpunkte bilden, weil den Hilfesuchenden etwa Bildung versagt wird. Bislang gilt: Erst Deutsch lernen, dann gibt es vielleicht einen Job. Dieses Prinzip will der CDU-Politiker ändern: Erst in Arbeit bringen, parallel Deutsch lehren.

Der Bedarf an Lehrkräften wird damit ansteigen. Auch für Schulen in Deutschland werden sich die Anforderungen ändern. Während der Balkankriege in den 1990er Jahren gab es schon einmal einen Zustrom an Kindern und Jugendlichen in das deutsche Bildungssystem. Fast alle gingen nach Ende der kriegerischen Konflikte zurück in ihre Heimat. In der aktuellen Lage erscheint das unwahrscheinlich.

Schulen und Lehrer müssen sich also darauf einstellen, noch mehr Integration leisten zu müssen. Das kann Sonderbetreuung von Schülern sein, aber auch Ausweitung des Angebots für Religionsunterricht.

Arbeitsmarkt und -vermittlung

Wenn Flüchtlinge früher als bisher in Arbeit sollen, um sie nach US-amerikanischem Vorbild so in die Gesellschaft zu integrieren, muss Deutschland die entsprechenden Hürden absenken oder entfernen. Bereits beschlossen hat die Große Koalition auf ihrem Gipfel, dass das Leiharbeitsverbot für Asylbewerber und Geduldete bereits nach drei statt sechs Monaten entfallen soll. Für Jobcenter gibt es zusätzliches Personal.

Den Angaben des BAMF zufolge hat über die Hälfte der Flüchtlinge, die Deutschland erreichen, eine Berufs- oder akademische Ausbildung. Das heißt allerdings umgekehrt, das fast die Hälfte ungelernt sind - und wahrscheinlich die wenigsten davon die Deutschkenntnisse haben, um sofort mit einer Ausbildung beginnen zu können. Das Institut für Arbeitsmarkts- und Berufsforschung (IAB) weist für die Asylbewerber aus dem Jahr 2013 sogar 60 Prozent Ungelernte im Alter zwischen 24 und 64 aus.

Das Problem derzeit: Asylbewerber dürfen nur arbeiten, wenn kein Deutscher oder EU-Bürger für den betreffenden Job infrage kommt. Ist das der Fall, sperrt das Computersystem die Arbeitsstelle für den Flüchtling. Erst nach 15 Monaten entfällt diese Prüfung. Es ist also auch an dieser Stelle von besonderer Bedeutung, dass die Entscheidung über Asylanträge nicht länger dauert als bisher. Das würde die Haushalte belasten und die Hilfesuchenden unnötig in einer Warteschleife halten.

Trotz dieser und womöglich noch folgenden Änderungen ist es utopisch, davon auszugehen, dass Neuankömmlinge sofort unabhängig von staatlichen Leistungen werden. Deshalb rechnet Arbeitsministerin Andrea Nahles mit rund einer halben Million zusätzlicher Hartz-IV-Empfänger im kommenden Jahr. Wegen der mangelnden Sprachkenntnisse wird es vor allem ein Kampf um Niedriglohnjobs geben - denn ohne gute Deutschkenntnisse bleibt nur dieser Jobsektor. Der Mindestlohn wird sich für die staatlichen Kassen dadurch wohl erstmals merklich auszahlen.

Quelle: ntv.de

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