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Parteispitze tourt durch Sachsen Grüne stemmen sich gegen Untergang - und geraten ins Schwitzen

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Habeck im heißen Kupfersaal in Sachsen.

Habeck im heißen Kupfersaal in Sachsen.

(Foto: picture alliance/dpa)

Eine Partei auch fürs Land und für Nicht-Akademiker zu sein: Von diesem Ziel sind die Grünen so weit entfernt wie lange nicht. In Sachsen stemmt sich die Partei gegen den Bedeutungsverlust. Das könnte sich noch einmal ausgehen - zum Verdruss des Ministerpräsidenten.

Die Grünen haben eine Klimakrise provoziert: Zwei Stunden lang fächeln sich Hunderte Menschen verzweifelt Luft ins Gesicht, schwitzen stillsitzend in engen Stuhlreihen. Und das alles nur wegen Robert Habeck. Der Wirtschaftsminister und voraussichtliche Kanzlerkandidat der Grünen zieht zumindest das eigene Publikum in Scharen an. Bei 30 Grad Außentemperatur verbringen sie den frühen Mittwochabend im nicht klimatisierten Kupfersaal in der Leipziger Innenstadt. Vor allem jüngere Menschen, darunter viele Frauen drängeln sich in dem schmucken, holzvertäfelten Raum. Dabei kommt Habeck erst nach einer Stunde auf die Bühne. Die sächsischen Landtagswahlkandidaten treten gewissermaßen als Vorband auf.

Vier Tage vor dem Wahltag läuft der sächsische Landtagswahlkampf auf seinen dramatischen Höhepunkt zu. "Es geht um unsere Zukunft", ruft die grüne Spitzenkandidatin Katja Meier ins Publikum. Die Justizministerin meint das Bundesland und die Menschen, die darin leben. Doch natürlich geht es am 1. September auch um das Überleben ihrer Partei in Sachsen. Zwischen 5 und 6 Prozent liegen die Grünen in den Umfragen. Ihnen droht - wie SPD und Linken - der Rauswurf aus dem Parlament.

Das liegt auch an Ministerpräsident Michael Kretschmer, der beständig alle Demokraten im Land dazu aufruft, im Angesicht der hohen Zustimmung für AfD und BSW die CDU zur stärksten Partei zu wählen. Zugleich lässt Kretschmer keine Gelegenheit aus, vor den Grünen zu warnen: Die Partei verstehe nichts von Ostdeutschland, trage "ideologische Scheuklappen", verfolge eine "lächerliche" Wirtschaftspolitik, komme für eine Regierungskoalition weder in Sachsen noch im Bund infrage.

Leipzig und Dresden sollen es rausreißen

Und Kretschmer muss es ja vermeintlich wissen: Neben der SPD sind die Grünen seit bald fünf Jahren einer seiner Koalitionspartner. Wie er künftig ohne sie eine Regierungsmehrheit gegen AfD und BSW zusammenbekommen will? Unklar. Die Grünen dagegen zeigen sich offen für eine Fortsetzung der komplizierten Zweckgemeinschaft. Man wolle "Verantwortung übernehmen in einer Koalition, die nicht Spaß macht, aber notwendig ist", sagt im Kupfersaal etwa Claudia Maicher.

Die Landtagsabgeordnete und die Stadt Leipzig gehören zu den Gründen, warum die Grünen noch gute Chancen haben, einen Rauswurf abzuwenden. Bei der parallelen Thüringen-Wahl hat die Partei kaum noch Hoffnung. Aber Maicher und die ebenfalls anwesende Christin Melcher könnten am Sonntag in Leipzig zwei Direktmandate gewinnen. Ein oder vielleicht zwei weitere Direktmandate winken den Grünen in Dresden. In zwei Wahlkreisen vorn zu liegen, würde schon reichen: Dann darf die Partei entsprechend ihres Stimmenanteils in den Landtag einziehen, auch wenn sie Sachsen-weit unter 5 Prozent bleibt.

So leicht wird Kretschmer seinen Koalitionspartner also nicht los. Die AfD flachst schon auf ihren Wahlplakaten: "Wer CDU wählt, bekommt Rot-Grün." Für die letzteren beiden wäre das der Optimalausgang dieser Wahl. Der GAU wäre aus Sicht von SPD und Grünen: Nur CDU, AfD und BSW ziehen in den Landtag ein. Dann würde wohl ein zweistelliger Prozentsatz auf Parteien entfallen, die nicht in den Landtag einziehen. Dann käme die AfD selbst mit weniger als 30 Prozent auf ein Drittel der Mandate und hätte künftig ein Wörtchen mitzureden im Freistaat, auch wenn sie nicht an einer Regierung beteiligt wird - etwa bei der Wahl von Richtern. Sachsens Grüne halten es zudem für möglich, dass die CDU der AfD-Versuchung erliegt, sollte Kretschmer irgendwie weichen.

Spaziergang in der Wohlfühl-Zone

Also alle Kraft für den Wiedereinzug, und zwar dort, wo er noch erreichbar ist: in den linksliberalen Zentren der beiden sächsischen Metropolen. Bevor Habeck am Abend in Leipzig auftritt, fährt Parteichefin Ricarda Lang am Morgen im diskreten schwarzen Van in Dresden-Blasewitz vor. Sie will Wahlkampf machen, Flyer verteilen und mit den Menschen sprechen. Grünen-Stadtrat Wolfgang Deppe führt sie erst entlang der Elbpromenade, dann durch die Neustadt. Die Zahl der begleitenden Presseleute und Kameramänner ist noch größer als Langs Stab samt Personenschützer.

Überall im Land erfahren die Grünen seit Monaten heftigen Gegenwind, doch nirgendwo weht der so scharf wie im Osten. Corona-Maßnahmen, Energiewende, Heizungsgesetz, Waffen für die Ukraine: Die Grünen sind dort für eine große Zahl der Menschen Hassfiguren geworden. Das hat vom Spitzenpersonal neben Habeck und Außenministerin Annalena Baerbock vor allem Lang in Form persönlicher Anfeindungen zu spüren bekommen. Für unbekannte Parteimitglieder, die sich an Wahlkampfstände stellen und an fremden Haustüren klingeln, ist es noch schwerer. Sie müssen mit Beleidigungen und Drohungen rechnen. Ihre Wahlplakate werden zerstört.

"Ich habe schon viele Wahlkämpfe mitgemacht, aber dass wir zum Teil derart angegangenen werden, das habe ich auch noch nicht erlebt", sagt Deppe. Den Grünen-Wahlkämpfern schlägt besonders in ländlichen Gegenden Wut entgegen. Wobei in der Partei auch eine Art Erleichterung darüber zu spüren ist, dass die Anfeindungen seit den Bauern- und Handwerkerprotesten im Winter etwas nachgelassen haben, statt immer weiter zu eskalieren.

In der linksliberal geprägten Dresdner Neustadt könnte Lang den Eindruck bekommen, als fänden all diese Anfeindungen in einer Parallelwelt statt. Die Reaktionen der Dresdner und der vielen Touristen sind freundlich. "Viel Erfolg" wünschen ihr einige ältere Damen. "Nein, danke" oder eiliges Weiterlaufen sind die schärfsten Formen der Ablehnung an diesem Tag. Lang besucht ein paar Ladengeschäfte, findet ein neues Kleid beim Gebrauchtwarenladen Oxfam - natürlich in Grün. "Zu den Ständen kommen meist nur die, die uns richtig scheiße oder richtig gut finden", erläutert Lang einer Weinhändlerin das Motiv hinter ihrem Spaziergang.

In Mittelsachsen eine Nischenpartei

Am Nachmittag gibt es dennoch einen Stand: Am Goldenen Reiter in der Neustadt bietet Lang kostenloses Eis feil im Gegenzug für ein Gespräch. Mit an der Statue dabei sind ihr Co-Vorsitzender Omid Nouripour, Bundesgeschäftsführerin Emily Büning und Sachsen-Spitzenkandidatin Meier. Trotz ungnädig brennender Sonne nehmen nur wenige Passanten das Angebot an. Noch weniger gefragt als das Eis sind die Gespräche mit dem Grünen-Spitzenpersonal. Auch nach zweieinhalb Jahren im Amt sind Lang, Nouripour und Büning weit entfernt von Bekanntheit und Strahlkraft ihrer beiden Vorgänger.

Die damaligen Vorsitzenden Habeck und Annalena Baerbock hatten das Ziel ausgerufen, die Grünen in der Breite der Gesellschaft zu verankern, wegzukommen vom Fokus auf die Großstadt-Akademiker. Bis zur letzten Bundestagswahl war man da auch einen guten Schritt vorangekommen - und musste seither mindestens zwei Schritte zurück machen. Bei der Europawahl im Frühjahr gingen die Grünen außerhalb der Städte baden, besonders im Osten. Im ländlich geprägten Mittelsachsen etwa landete die Partei mit 2,8 Prozent der Stimmen an siebter Stelle.

Habeck erinnert im Kupfersaal daran, dass er zur Landtagswahl 2019 drei bis vier Wochen am Stück durch Sachsen getourt ist. Während Lang durch Dresden spazierte, ließ sich Nouripour zwei Stunden lang in Meißen erklären, wie man Porzellan herstellt. Die amtierenden Bundesvorsitzenden haben Sachsen in der Breite längst aufgegeben.

In Leipzig und Dresden verfangen die Warnungen vor AfD und BSW dagegen noch am ehesten. Meier warnt vor "Baseballschläger-Jahren 2.0". Gemeint ist eine Wiederholung der 90er und frühen 2000er Jahre, als militante Neonazis im Osten weitgehend ungestört Jagd machen konnten auf vermeintliche Linke, auf Ausländer und andere Minderheiten. Der wachsende Rassismus bedrohe zudem Sachsens Wirtschaft, argumentieren AfD-Gegner. Die Menschen im Bundesland sind im Vergleich mit die ältesten in der ohnehin überalterten Bundesrepublik. Doch Westdeutsche und Menschen mit Migrationsgeschichte schrecken oft vor einem Umzug in die AfD-Hochburg zurück.

Ein Prediger mit Ost-Bezug

Nach all den Schreckensvisionen sowie Berichten über Grünen-Erfolge in der Landesregierung tritt endlich der lang erwartete Stargast nach vorn. Habeck stellt sich vor die Menge und ähnelt mit seinem Vortrag beinahe einem Prediger US-amerikanischer Prägung. Er wird schnell laut, spricht dann wieder nachdenklich, rudert mit den Armen und fixiert stets das Publikum. Habeck ruft aber nicht "Amen" oder "Hallelujah". Stattdessen wiederholt er in vielen Varianten die Formulierung "Wenn ich das so sagen darf, ...". Auch Habeck stimmt ein in die Warnungen vor einem weiteren Rechtsruck und vor dem BSW: Ohne Grüne im Landtag werde es "in Sachsen nicht eine Regierung geben, die frei von Populisten ist".

Der ewige Ideologie-Vorwurf gegen seine Partei sei falsch, erklärt Habeck. Die Grünen seien "keine ideologische Partei, die abstrakt irgendwas behauptet hat, sondern hingegangen ist zu den Problemen und sich darum gekümmert hat". Deutschlands saubere Flüsse, die Gleichstellung von Homosexuellen, die Einleitung der Energiewende und deren zuletzt beschleunigtes Tempo führt Habeck als Beleg an.

Und dann macht Habeck, was alle westdeutschen Spitzenpolitiker bei Auftritten im Osten tun: Er schmiegt sich an die revolutionäre Geschichte der Wiedervereinigung an. Habeck erinnert daran, dass das "Bündnis90" im Parteinamen auf die Verschmelzung mit der gleichnamigen DDR-Bürgerbewegung zurückgehe. Im Osten habe er gelernt, was Bündnisse bedeuteten, sagt Habeck. Nicht Übereinstimmung aller Beteiligten, sondern Allianzen zur Lösung konkreter Probleme zu bilden. Wenn der designierte Kanzlerkandidat über die Ausrichtung seiner Partei redet, ist Bündnisfähigkeit eines seiner Lieblingsthemen. Er findet dafür immer ein Stichwort, in Leipzig eben die sonst kaum beachtete DDR-Historie seiner Partei.

Schließlich nimmt sich Habeck noch Zeit für eine ausführliche Attacke auf CDU-Chef Friedrich Merz und dessen Forderungen nach einem Zugangsstopp für Geflüchtete. In Angesicht des Zuschauerzuspruchs wird Habeck dabei richtig launig. Er foppt die "Bild"-Zeitung als "Fachzeitung für europäisches Recht" und fragt nach Merz' Regierungserfahrung (keine - Hinweis der Redaktion). Fragen aus dem Saal beantwortet der Bundeswirtschaftsminister auch noch. Dann hat die zweistündige Hitze-Tortur für das Publikum ein Ende, auch Habeck wirkt am Ende angestrengt von der hohen Temperatur. Sachsens Grünen aber schwitzen bis zum Sonntagabend, wenn das Wahlergebnis kommt. Und wenn es gut geht für sie: noch fünf weitere Jahre in einer Koalition mit einem Ministerpräsidenten, der sie nicht einmal im Landtag haben möchte.

Quelle: ntv.de

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