Geheimdienst-Informant erzählt "In Chersoner Folterkammern stirbt man langsam"
12.09.2022, 16:44 Uhr
Eine Frau verkauft Grabkränze auf einem Markt in Cherson.
(Foto: REUTERS)
Im besetzten Cherson betreibt der Journalist Ryzhenko einen Telegram-Kanal mit Hilfsangeboten für die Bevölkerung - und liefert der ukrainischen Armee Daten über die russischen Stützpunkte. Angesichts der Gegenoffensive im Süden warnt er vor dem Grauen, das die Russen hinterlassen werden.
Als der Krieg beginnt und Cherson an die Russen fällt, entscheidet sich der junge ukrainische Journalist Konstantyn Ryzhenko, in seiner Heimatstadt zu bleiben und gegen die Besatzer zu kämpfen. Ohne auch einmal eine Waffe in die Hand zu nehmen, spielt der 28-Jährige eine wichtige Rolle im ukrainischen Widerstand in der besetzten Region.
Er betreibt einen populären Telegram-Kanal mit Hilfsangeboten für die Bevölkerung. Was aber noch wichtiger ist: Ryzhenko und seine Mitstreiter sind die "Augen" des ukrainischen Geheimdienstes vor Ort. Monatelang übergeben sie Daten über Standorte und Ausstattung der russischen Stützpunkte an die ukrainische Armee. So kann eine Reihe von erfolgreichen Angriffen durchgeführt werden. Als sein weiterer Aufenthalt in Cherson zu gefährlich wird, verlässt Ryzhenko die besetzte Region.
Im Interview mit ntv.de spricht er über seine Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst und über die Stimmung in der Stadt. Angesichts einer möglicherweise baldigen Befreiung von Cherson warnt der Journalist vor dem Grauen, das die Russen hinterlassen werden.
ntv.de: Wo sind Sie jetzt? Wie geht es Ihnen und was machen Sie, nachdem Sie Cherson verlassen haben?
Konstantyn Ryzhenko: Ich bin in Kiew und setzte hier meine Arbeit fort. Die Nachfrage nach Information ist so groß, dass ich nichts anderes tun kann. Gleich nachdem ich ankam, setzte ich mich an meinen Computer und begann mit der Datenerfassung. Ich betreibe einen Telegram-Kanal, sammle Informationen und Hilfegesuche und berate mich mit den Menschen darüber, was wir tun können, um ihnen zu helfen. Mit meinen Mitstreitern koordiniere ich eine Reihe von Telegram-Kanälen, die sich für die Bevölkerung einsetzen. Damit ersetzen wir, so seltsam es klingt, die regionalen Behörden. Außerdem sammeln wir Daten für unsere Armee, unterstützen die Geheimdienste und die Partisanen.
Wie genau sieht Ihre Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst aus?
Das Entscheidende für die Artillerie ist, "Augen" vor Ort zu haben. Jemanden, der schildern kann, wo genau sich die feindlichen Ziele befinden. Für diesen Zweck gibt es Aufklärungsdrohnen, aber sie können niemals einen Informanten vor Ort ersetzen. Denn ein Mensch kann sagen: "Ihr habt das Ziel um 30 Meter verfehlt", und dann klappt es beim nächsten Angriff. Ich alleine konnte nicht allgegenwärtig sein, deswegen rief ich meine Follower auf, die Daten zu liefern. Wir überprüften sie, zeichneten Karten von russischen Militärstützpunkten und übergaben die Informationen der Armee.
Können Sie ein Beispiel einer erfolgreichen Kooperation zwischen Ihnen und der Armee nennen?
Tschaplynka (eine Siedlung in der Oblast Cherson, unweit der Krim - Anmerkung der Redaktion) ist ein gutes Beispiel. Wir haben erfahren, dass in der Nähe des Dorfes ein großer russischer Stützpunkt entsteht. Es gab einen Haufen Hubschrauber, Munition, sie haben dort eine ganze Stadt errichtet. Wir warteten ab, beobachteten, und als sie dann etwa Hundert Fahr- und Flugzeuge dort stationiert hatten, dann gab es einen schönen Volltreffer: 15 Hubschrauber zerstört, 300 Soldaten liquidiert. Sie verloren auch eine große Menge an Ausrüstung, die aber nicht gezählt werden konnte.
Warum errichten denn die Russen ihre Stützpunkte in der Nähe von Städten und Dörfern? Ist ihnen nicht klar, dass es dort Einwohner gibt, die ihre Standorte an die Geheimdienste melden?
Doch. Aber ihnen bleibt nichts anderes übrig. Die Stützpunkte müssen ja logistisch günstig liegen, also im besten Fall in der Nähe von Verkehrsadern. Und dort leben überall Menschen. Man kann natürlich einen Stützpunkt in einem abgelegenen Feld bauen, aber wie hoch ist der Nutzen eines solchen Stützpunktes?
Das Hauptproblem der ukrainischen Armee sind aktuell die fehlenden Waffen?
Ja, wir haben zu wenige Raketensysteme mit großer Reichweite. Es gibt welche, aber sie sind sehr rar. Heute haben wir zum Beispiel fünf Ziele gemeldet, die man angreifen könnte. Dem Militär stehen dafür aber nur zwei Sätze Munition zur Verfügung. Sie müssen also zwei Ziele aussuchen, die höhere Priorität haben. Zudem werden 20 bis 50 Prozent der Raketen von der russischen Luftabwehr abgefangen.
Sie sprechen ziemlich offen über die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst und die Vorgehensweise der Armee. Haben Sie keine Bedenken, dass Sie damit zu viel verraten und so womöglich dem Feind helfen?
Nein, alles was ich erzähle, ist zu allgemein und oberflächlich. Das sind Dinge, die vor mir schon Menschen aus anderen besetzten Gebieten erzählt haben.
Haben Sie keine Angst um sich selbst oder Ihre Verwandten und Freunde, die in Cherson geblieben sind?
Hätten meine Interviews jemandem einen Schaden zufügen können, dann hätte ich geschwiegen. Meine Familie ist nicht mehr in den besetzten Gebieten. Und meine Freunde und Mitstreiter, die geblieben sind, freuen sich, wenn ich erzähle, was sie dort tun. Die Menschen in Cherson sollen wissen, dass sie nicht im Stich gelassen werden, dass es einen Widerstand gibt.
Sie arbeiten mit dem Geheimdienst zusammen und betreiben gleichzeitig einen Telegram-Kanal mit mehr als 30.000 Abonnenten, auf dessen Profilbild Ihr Foto zu sehen ist. Wie wurden Sie nicht erwischt?
Zunächst einmal habe ich mein Aussehen stark verändert. Alles war anders: die Gesichtsform, die Haarfarbe und -länge. Selbst Leute, die mich gut kannten, erkannten mich nicht immer.
Wie haben Sie Ihre Gesichtsform verändert?
Ein Maskenbildner hat mich beraten. Ein Operation oder Ähnliches habe ich nicht gemacht, aber Gesichtsgeometrie und den Hautton habe ich ein wenig geändert.
Was taten Sie sonst, um nicht gefasst zu werden?
Ich wohnte verständlicherweise nicht in meiner Wohnung. Ich bewegte mich zwischen den vielen Wohnungen, die mir Bekannte überlassen hatten, damit ich auf sie aufpasse, während sie weg sind. Im besetzten Gebiet wusste nur eine Person, wo ich zu finden bin - sie hatte die Mitstreiter informieren müssen, wäre mir etwas Schlimmes zugestoßen. Je weniger soziale Berührungen - desto zuverlässiger ist dein persönliches Sicherheitssystem.
Und doch haben Sie irgendwann verstanden, dass Sie raus müssen?
Irgendwann erkannten mich viel zu viele Menschen auf der Straße, es wurde zu gefährlich. Wenn ich in der Stadt unterwegs war, kamen auf mich immer wieder Menschen zu, die sich bei mir für den Telegram-Kanal bedanken oder von ihren Problemen erzählen wollten. Die Menschen dachten, ich kann ihre Probleme lösen. Einer fragte mich zum Beispiel, wo man Futter für eine kleine Python finden kann. Ist das euer Ernst? Sehe ich aus wie jemand, der in einer besetzten Stadt nach dem Futter für eine kleine Python suchen wird? (lacht)
Wie sieht das Leben in der besetzten Stadt aus? Gibt es genug Lebensmittel, Medikamente?
Man kann nur russische Lebensmittel kaufen, sie sind sehr teuer und ungenießbar. Sie stinken nach ranzigem Öl und Haushaltschemikalien. Wir nennen es "so riecht der russische Geist". Medikamente sind auch Mangelware und sie kommen auch aus Russland. Einige kleine Chargen bringen Freiwillige aus den nicht besetzten Gebieten, aber nur in extremen Fällen.
Ist es überhaupt möglich, in die freien Gebiete zu reisen?
Einen grünen Korridor gibt es nicht. Das heißt, jeder reist auf sein eigenes Risiko. Es kann passieren, dass Sie den Soldaten an einem der Kontrollpunkte aus irgendeinem Grund verdächtig erscheinen. Oder Sie passieren den letzten Kontrollpunkt und freuen sich schon, bald in Sicherheit zu sein - und die russische Artillerie eröffnet plötzlich das Feuer. Einfach so; es gibt keine Garantie, es gibt keinen Zeitplan, wann geschossen wird und wann nicht. So ist das Leben in Cherson. Es gibt keine Arbeit, es gibt kein Geld. Du verlässt das Haus nur, um schnell etwas auf dem Markt zu kaufen - und hoffst währenddessen, dass du nicht verdächtig aussiehst und dass du nicht von jemandem abgeholt wirst.
Wie ist die Stimmung in der Stadt?
Die Menschen warten auf die Befreiung.
Und wie benehmen sich die Besatzer?
Sie sind unverschämt. Es gibt zum Beispiel Fälle, dass sie den Geldwechslern alle Hrywnja-Scheine wegnehmen - sie wollen ja den Rubel durchsetzen. Und dann zwingen sie sie noch dazu, ein Papier zu unterschreiben, wonach sie das Geld an die russische Armee gespendet haben. Sie können Sie einfach auf der Straße anhalten, um Ihr Handy zu durchsuchen. Und wenn sie in Ihren privaten Nachrichten irgendwas finden, was ihnen nicht gefällt - zum Beispiel, wenn Sie die Russen als Orks bezeichnen, reicht das aus, um Sie festzunehmen und zu foltern. Und dann bringen sie Sie noch dazu, ein Video aufzunehmen, in dem Sie sagen, Sie hätten einen Entnazifizierungskurs absolviert und seien sehr froh, dass Ihre Stadt "befreit" wurde.
Stellen wir uns vor, ich habe keine Ahnung, was in der Ukraine los ist und lande plötzlich in Cherson. Was würde ich bei einem Spaziergang durch die Stadt sehen oder erleben?
Höchstwahrscheinlich werden Sie innerhalb einer halben Stunde in die Folterkammer gebracht.
Warum? Ist ein Mensch, der einfach gemächlich spazieren geht, verdächtig?
Wenn Sie nicht erklären können, wohin Sie gehen und warum, sehen Sie für die Russen wie ein Spion aus, sie werden Ihnen eine Menge Fragen stellen wollen.
In einem Interview sagen Sie, wenn Cherson befreit wird, wird Butscha im Vergleich dazu nicht mehr so ein Horror sein. Was meinen Sie damit?
Der Albtraum ist, dass Menschen sowohl in Butscha als auch in Cherson und in anderen Orten ums Leben kommen. Der Unterschied besteht darin, wie sie sterben. In Butscha geschah alles schnell, innerhalb kürzester Zeit: Die Menschen wurden gefoltert und dann erschossen. In Cherson sitzen die Menschen in Folterkammern und sterben langsam an den Foltern. Zum Beispiel man wird zwei Monate lang misshandelt - und dann versagt irgendwann das Herz, man stirbt. Hier sterben Menschen an den Folgen von Folter, und das ist ein massives Phänomen.
Eine ungefähre Opferzahl zu nennen ist wahrscheinlich unmöglich?
Natürlich haben wir keine Opferzahlen. Aber die Zahl der Vermissten geht in die Tausende. Das sind Informationen aus Telegram-Kanälen, in denen Menschen nach ihren Angehörigen suchen. Täglich werden etwa zehn neue Vermisstenanzeigen veröffentlicht.
Was glauben Sie, warum wurden ausgerechnet in Butscha so viele Menschen einfach auf der Straße erschossen? Während man in anderen befreiten Städten und Dörfern weniger solcher Fälle vorfindet?
Nun, die Besatzer sind der Meinung, dass das Gebiet zwischen Charkiw und Odessa zu "Neurussland" gehört, das ja nach deren Meinung Teil Russlands werden soll. Sie haben damit gerechnet, dass sie uns schnell erobern - und danach leben wir zusammen. Die Ukraine beginnt für sie erst hinter dieser Linie. Während die einen also "befreit" werden, müssen die anderen eingeschüchtert werden. Damit sie still halten und sich in die "Befreiung" nicht einmischen.
Mit Konstantiyn Ryzhenko sprach Uladzimir Zhyhachou
Quelle: ntv.de