"Ran an den Speck" Merkel und Schulz kämpfen und zittern
23.09.2017, 20:56 Uhr
In Greifswald nahm Merkel an einer Übung zur Reanimation teil - sie übte an einer Puppe.
(Foto: dpa)
Man hört es überall: Kanzlerin Merkel dürfte im Amt bleiben. Trotzdem müssen sich die Union, aber auch die SPD auf Verluste bei der Bundestagswahl einstellen. Ihre Spitzenkandidaten zieht es deshalb noch einmal in die eigenen Wahlkreise. Sie geben sich kämpferisch.
Ungeachtet der erwarteten Verluste für die Regierungsparteien Union und SPD gilt bei der Bundestagswahl am Sonntag eine Bestätigung von Kanzlerin Angela Merkel als sicher. Ungewiss bleibt aber, wie stark die CDU-Chefin aus der Wahl hervorgeht und welche Koalition sie künftig anführt. Mit Sorge wird vor allem auf das Abschneiden der AfD geblickt, die als drittstärkste Kraft und zweistellig in den Bundestag einziehen könnte.
Merkel, ihr SPD-Herausforderer Martin Schulz und andere Spitzenkandidaten kämpften bis zuletzt um die Stimmen unentschlossener Wähler. Schulz warb in Aachen noch einmal für einen Regierungswechsel unter seiner Führung. "Wir kämpfen bis zur letzten Minute", sagte der 61-Jährige. Es gelte, eine "Regierung der sozialen Kälte" und einen Erfolg der AfD zu verhindern. "Keine eigene Idee, keinen Plan für die Zukunft", kritisierte er die Kanzlerin. "Sie will die Vergangenheit verwalten, ich will die Zukunft gestalten."
Merkel besuchte zum Abschluss des Wahlkampfs ihren Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern, wo sie vor vier Jahren 56,2 Prozent der Erststimmen erhalten hatte. Aufmerksam wird registriert werden, wie viele Stimmen sie dort am Sonntag an die AfD abgeben muss. In Stralsund verteilte Merkel Info- und Werbematerial, danach fuhr sie nach Greifswald und auf die Insel Rügen. Zuvor rief sie die CDU noch einmal zum Kampf um die Stimmen unentschiedener Wähler auf. "Viele entscheiden sich erst in den letzten Stunden", sagte sie bei einem Treffen mit jungen CDU-Wahlkampfhelfern in Berlin. Deshalb gelte nun die Parole: "Ran an den Speck! Jede Stimme ist wichtig."
FDP-Chef Christian Lindner sagte in Düsseldorf, seine Partei werde nicht in eine Regierung eintreten, wenn sie keine eigenen Akzente und Ziele durchsetzen könne. "Wir regieren nicht um jeden Preis", erklärte er. Eher gingen die Liberalen in die Opposition und machten der Regierung von dort aus Beine. Ein Prozentpunkt könne entscheiden, "wer dritte Kraft wird in diesem Land", sagte Lindner. Sollte die AfD dies werden, "wäre das eine Blamage für Deutschland und die Deutschen".
Merkel verliert an Boden
Grünen-Spitzenkandidat Cem Özdemir äußerte sich bei Twitter: "Morgen geht es um die Zukunft Europas", erklärte er. Ziel müsse eine ökologische und soziale Erneuerung des Kontinents sein. Seine Kollegin Katrin Göring-Eckardt erneuerte die Zielsetzung, Platz Drei unter den Parteien zu erreichen. Die Linke plädierte für einen "echten Politikwechsel". Die Partei forderte die Wähler auf, für eine starke Linke zu sorgen, die für Frieden und Gerechtigkeit stehe.
AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel warf Politikern der etablierten Parteien im TV-Sender "Phoenix" ein mangelndes Demokratieverständnis vor. Ihre Partei forderte Anhänger auf, flächendeckend auf einen korrekten Ablauf der Wahl zu achten.
Rund 61,5 Millionen Deutsche sind zur Wahl aufgerufen. Sie können unter 42 Parteien und 4828 Bewerbern auswählen. Die Wahllokale haben von 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr geöffnet. Letzte Umfragen sehen die Union zwischen 34 und 36 Prozent. Die SPD steht bei 21 bis 22 Prozent. Die AfD käme auf 11 bis 13 Prozent, die Linke auf 9,5 bis 11, die FDP auf 9 bis 9,5 Prozent. Die Grünen stehen bei 7 bis 8 Prozent.
Damit könnte neben einer neuen großen Koalition aus Union und SPD auch ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen möglich werden. Bei der Bundestagswahl 2013 hatte die Union 41,5 Prozent bekommen, die SPD 25,7 Prozent, die Linke kam auf 8,6, die Grünen erreichten 8,4 Prozent. FDP (4,8) und AfD (4,7) scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde.
SPD-Kanzlerkandidat Schulz konnte unmittelbar vor der Wahl im direkten Vergleich mit Merkel den Abstand deutlich verringern. Nach einer Emnid-Umfrage für die "Bild am Sonntag" würden sich 45 Prozent für Merkel und 32 Prozent für Schulz entscheiden, wenn der Bundeskanzler direkt gewählt würde. Vor vier Wochen hatte Merkel noch mit 51 zu 22 Prozent geführt.
"Unerfreulich, aber keine Katastrophe"
Wie stark der erwartete Einzug der AfD in den Bundestag das politische Klima in Deutschland verändern wird, beschäftigt unterdessen Politiker und Experten. Bundesinnenminister Thomas de Maizière bezeichnete die AfD als "Wolf im Schafspelz". Der Verfassungsschutz verfolge, "ob sich Rechtsextremisten dieser Partei bemächtigen und ob sie Einfluss auf die Partei haben", sagte der CDU-Politiker t-online.de. Allerdings könnte man eine Partei nicht vom Verfassungsschutz beobachten lassen, nur weil sie einem politisch nicht gefalle. "Im Ganzen ist die Partei AfD nicht extremistisch, so dass der Verfassungsschutz sie als ganze Partei auch nicht beobachten kann", sagte er. Momentan nehme man alle extremistischen Äußerungen aus der AfD wahr und bewerte sie.
Der Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, Thomas Krüger, äußerte sich besorgt über die hitzige Stimmung vor allem in Ostdeutschland. "Diese Wut und der Hass, der dieser Tage auf der Straße zu beobachten ist, beunruhigt mich schon sehr", sagte er der "Berliner Zeitung". Mit Blick auf das Erstarken der AfD sagte Krüger: "Wir können nur hoffen, dass wir am Wahltag nicht unser blaues Wunder erleben."
Befürchtungen gibt es auch beim Zentralrat der Juden in Deutschland. Dessen Präsident Josef Schuster hält es für möglich, dass sich die AfD in Zukunft auch gegen Menschen jüdischen Glaubens wenden könnte. "Es ist eine Partei, die gegen Minderheiten Stimmung macht", sagte er dem Berliner "Tagesspiegel". Im Moment richte sich das vorwiegend gegen Muslime. Aber es könnte auch andere Minderheiten treffen. "Dazu zähle ich auch Juden", sagte Schuster.
Der Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, Manfred Güllner, erwartet, dass sich die AfD nach ihrem Einzug in den Bundestag rasch zerstreitet. "Die AfD wird sich zerlegen, weil das bei sektiererischen Gruppen vom rechten Rand bisher immer so war", sagte er der "Neuen Osnabrücker Zeitung". Der Meinungsforscher sieht aber keine Gefahr für die Demokratie, wenn die AfD erstmals im Bundestag vertreten ist. "Es ist unerfreulich, aber keine Katastrophe, weil die Deutschen insgesamt als Demokraten gefestigt sind."
Quelle: ntv.de, mli/dpa/rts/AFP