Expertin Stumbaum zur Wahl "Ukraine-Krieg und Taiwan-Konflikt sind Schwestern"
15.01.2024, 18:14 Uhr Artikel anhören
Anhänger der Demokratischen Fortschrittspartei fordern im Wahlkampf ein freies Taiwan.
(Foto: dpa)
Mit 40,05 Prozent der Stimmen hat Lai Ching-te die Präsidentschaftswahl in Taiwan gewonnen. Seine Demokratische Fortschrittspartei verliert allerdings die absolute Mehrheit im Parlament. Das Ergebnis der Wahl "ist nicht so eindeutig wie gedacht", sagt die Sicherheitsexpertin May-Britt Stumbaum, Direktorin des Spear Institute und Associate Fellow am CISS der Bundeswehr-Universität München. Fest steht ihr zufolge aber: "Die Taiwaner wollen eindeutig nicht Teil der Volksrepublik China werden." Doch was heißt das für den Konflikt mit Peking, das Taiwan als Teil des eigenen Landes sieht und eine Eingliederung notfalls mit Krieg erreichen will? "Peking reagiert immer eher mit noch mehr Druck, als Kompromisse einzugehen", sagt Stumbaum. Sie sieht Parallelen zum Krieg in der Ukraine und fordert auch von Deutschland Vorbereitungen auf den Ernstfall.
ntv.de: War die Wahl in Taiwan die Schicksalswahl, von der im Vorfeld gesprochen wurde?
May-Britt Stumbaum: Es war auf jeden Fall eine Schicksalswahl, aber das Ergebnis ist nicht so eindeutig wie gedacht. Die Taiwaner haben sich mit Lai Ching-te klar für den chinakritischen Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Fortschrittspartei (DPP) entschieden, aber die Wahl zum Parlament wurde von innenpolitischen Themen bestimmt. Und da hat die neue Taiwanische Volkspartei (TPP) so viele Sitze bekommen, dass sie jetzt das Zünglein an der Waage ist. Wie die Kuomintang (KMT), die knapp die Parlamentswahl vor der DPP gewonnen hat, ist sie eher chinafreundlich, und insofern wird es nun interessant, wohin die Reise geht. Lai kann nicht so frei regieren wie seine Vorgängerin, die sich auf eine absolute Mehrheit der DPP stützen konnte.

Prof. Dr. May-Britt U Stumbaum ist Direktorin, SPEAR Institute, und Associate Fellow am CISS der Bundeswehr Universität München.
(Foto: Universität der Bundeswehr)
Was sagen die Wahlergebnisse über das taiwanische Selbstverständnis aus?
Die Wahl Lais sagt aus, dass die Taiwaner eindeutig nicht Teil der Volksrepublik China werden wollen. Zwar lehnt auch die Kuomintang das schlussendlich ab, aber Lai hat das im Wahlkampf noch eindeutiger betont. Gleichzeitig zeigt aber das Ergebnis der Parlamentswahl, dass den Taiwanern die Innenpolitik wichtiger ist als die Außenpolitik. Es ging zwar um den Kurs gegenüber der Volksrepublik, aber eben auch um die nach wie vor stagnierenden Löhne, unbezahlbare Mieten, fehlende Jobs für junge Menschen oder die Gefahr einer Energiekrise.
Das ist ein Dämpfer für die Unabhängigkeitsbestrebungen Lais und der DPP.
Umfragen haben gezeigt, dass mehr als 80 Prozent der Menschen im Grunde wollen, dass alles so bleibt, wie es ist.
Also, dass Taiwan de facto ein eigener Staat ist, auch wenn er seine Unabhängigkeit nicht erklärt hat?
Genau. Aber die meisten Menschen glauben nicht, dass Peking seine Pläne einer Angliederung an China aufgeben wird - deswegen die starke Unterstützung für Lai. Auf der anderen Seite haben Kuomintang und TPP viele Stimmen bekommen, weil es auch darum geht, in einen Dialog mit der Volksrepublik zu kommen. Keiner will Krieg, deshalb braucht es für sie einen Weg, miteinander leben zu können.
Im Vorfeld der Wahl gab es viele Einschüchterungsversuche, Fake News, auch militärische Drohgebärden durch die Volksrepublik. Das hat nicht gefruchtet, wird Peking dennoch daran festhalten?
Ich glaube, diese Strategie wird weitergehen. Präsident Xi Jinping strebt eine umfassende Kontrolle an, alles wird ein Sicherheitsthema. Peking reagiert daher immer eher mit noch mehr Druck, als Kompromisse einzugehen. Angefeuert wird das durch die schlechte wirtschaftliche Lage in China, die die Kommunistische Partei dazu treibt, zunehmend auf die nationalistische Karte zu setzen, also Probleme im Ausland zu suchen, um eine innere Geschlossenheit zu erreichen.
Wie kann China abseits des Militärs den Druck erhöhen?
Taiwan ist bereits jetzt eines der Hauptangriffsziele für Cyberattacken - laut dem Außenminister sind es 15.000 pro Sekunde. Außerdem wird zunehmend der Handel als Waffe eingesetzt. Bereits jetzt gibt es wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen gegen Taiwan, gegen den Export von Südfrüchten oder Fisch. Taiwan hat darauf reagiert und versucht, die Abhängigkeit herunterzufahren. In Indien und Südostasien gab es 2023 mehr Investitionen als in Festlandchina, was auch an den wirtschaftlichen Problemen in der Volksrepublik lag.
Lai will deeskalieren - wie kann er das erreichen?
Ich denke, Lai wird zu Beginn versuchen, zusammen mit der TPP und vielleicht auch der Kuomintang versöhnlichere Töne anzuschlagen. Nur sieben Prozent der Menschen sind für eine Wiedervereinigung mit Festlandchina. Die Taiwaner haben an Hongkong gesehen, dass das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" nicht funktioniert. Daneben wird Lai weiter versuchen, internationale Unterstützung zu erhalten. Das ist wichtig, weil es den internationalen Druck auf Peking erhöht.
Allerdings hat Xi in seiner Neujahrsansprache sehr deutlich gesagt, dass Taiwan Teil der Volksrepublik werden soll - Einmischungen von außen werden strikt abgelehnt.
Er steht unter Zeitdruck. Xi will die Wiedervereinigung möglichst bald vollenden, solange er selbst noch in Saft und Kraft steht. Hinzu kommen die Wirtschaftsprobleme, die ihn zu außenpolitischen Erfolgen zwingen. Vor allen Dingen möchte er aber verhindern, dass Taiwan sich noch besser aufstellt und noch mehr Unterstützung aus den USA erhält. Das merkt man auch an der scharfen Reaktion auf die inoffizielle US-Delegation, die heute nach Taiwan reist. Das wird von Peking als Einmischung in interne Angelegenheiten verurteilt.
Eine Frage steht immer im Raum: Inwieweit sehen Sie China bereits militärisch in der Lage, einen Angriff zu starten?
Das hängt davon ab, von welcher Seite man das betrachtet. Aus westlicher Perspektive, mit den Informationen, die wir haben, gehen wir davon aus: Sie können das derzeit nicht. Es gibt für einen Angriff verschiedene Szenarien: eine Seeblockade, die Einnahme vorgelagerter Inseln oder eine amphibische Landung mit einer Enthauptungsstrategie. Dabei würden zunächst Luftwaffe und Luftabwehr außer Gefecht gesetzt und die Regierung gefangengenommen - das ist das Kiew-Szenario, das Russlands Präsident Wladimir Putin ursprünglich in der Ukraine angestrebt hat. Dafür sind große Kapazitäten nötig. Die Chinesen haben aber weder die Kampferfahrung - der letzte Krieg fand in den 70er Jahren gegen Vietnam statt -, noch Trainingsmöglichkeiten für verbundene Waffensysteme.
Wie sieht die chinesische Perspektive aus?
Die chinesische Regierung, vor allem Xi Jinping, ist davon überzeugt, dass sich der Westen im Abstieg befindet und sich damit ein historisches Zeitfenster öffnet: Zu Putin hat er gesagt, dass beide Veränderungen vorantreiben, wie es sie seit 100 Jahren nicht gab. Außerdem hat China die Möglichkeit, viel mehr Kapazitäten hineinzuwerfen, als es westliche Planer erwarten. Das gilt auch für Soldaten, also Menschenleben. Russland hat in der Ukraine große Fehler gemacht, aber es kann eben immer mehr Soldaten in den Krieg schicken. Das kann China auch. Die Gefahr ist, dass China zwar nicht die militärische Fähigkeit für einen erfolgreichen Angriff auf Taiwan besitzt, aber einfach Tatsachen schaffen will und sozusagen alles in die Schlacht wirft.
Darin ähneln sich die Ukraine und Taiwan?
Der Ukraine-Krieg und der Taiwan-Konflikt sind Schwestern, die haben sehr viel miteinander zu tun, weil Russland und China eng zusammenarbeiten. Und wir werden auch die Auswirkungen bei einem Ernstfall in Taiwan spüren. Wenn es dazu kommt, dann sind die Probleme im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wirklich klein.
US-Präsident Joe Biden hat für den Fall eines Kriegs die Unterstützung Taiwans angekündigt. Inwieweit ist da Donald Trump bei einem Wahlsieg ein Unsicherheitsfaktor?
Bei Trump ist das sehr ambivalent. Einerseits sagen Experten, dass ihm der Indopazifik noch nie besonders wichtig war und er Taiwan einfach fallen lassen könnte. Andererseits hat er in seiner Regierungszeit, aber auch im Wahlkampf stark gegen China gewettert und auch sehr klar mit Taiwan kommuniziert. Das deutet darauf hin, dass er das Land unterstützen wird. Es ist schwierig vorherzusehen, was er macht. Ein Problem ist allerdings, dass bei jeder neuen Regierung viele Top-Diplomaten ausscheiden und es lange dauert, bis die Posten neu besetzt sind. Es wird also in jedem Fall eine Übergangszeit geben, in der die Regierung nur eingeschränkt handlungsfähig ist. Auch angesichts der Polarisierung in den USA wird 2025 deshalb ein kritisches Jahr, weil das Land stark mit sich selbst beschäftigt sein könnte.
Welche Rolle kann Deutschland spielen, sowohl um einen Krieg noch zu verhindern, als auch im Ernstfall, wenn es zu einem Angriff kommt?
Deutschland sollte auf jeden Fall Position beziehen. Das hat Annalena Baerbock gerade erst im Südchinesischen Meer durch ihren Besuch auf den Philippinen getan - und wurde sofort von Peking gescholten. Aber es ist wichtig, dass Deutschland für Taiwan Flagge zeigt, das Thema öffentlich anspricht, sich mit Partnern verständigt, auch innerhalb der EU für Unterstützung wirbt. Denn China will das Thema am liebsten von der Weltbühne fernhalten und lieber im Stillen Fakten schaffen. Es will diesen Kampf gar nicht kämpfen, sondern den Krieg auch so gewinnen - wie es der chinesische Militärstratege Sunzi gelehrt hat.
Und wenn es wirklich zu einem Angriff kommt?
Deutschland muss sich überlegen, wo es steht, wenn es zu einem Konflikt kommt. Denn das werden zum Beispiel die USA sehr schnell fragen. Verteidigungsminister Boris Pistorius hat bereits gesagt, dass der Indopazifik eines der wichtigsten Themenfelder ist, über die man sich informieren muss, weshalb Deutschland auch in diesem Jahr zwei Schiffe in die Region schickt. Aber man muss auch die nicht-militärischen Bereiche im Blick behalten.
Welche sind das vor allem?
Wenn China es schafft, die Kontrolle über die Taiwan-Straße zu erhalten, auch ohne dass Taiwan selbst erobert wird, dann hat es die Kontrolle über eine der wichtigsten Handelsstraßen der Welt. Deutschland muss sich damit auseinandersetzen, wenn China zunehmend die Wirtschaft als Waffe einsetzt - dafür gibt es die Strategie des De-Risking. Die Rhodium Group hat bereits vorausgesagt, dass im Konfliktfall in den ersten zwei Wochen mehr als 270 Milliarden US-Dollar an Krediten von den Banken eingefroren werden, noch bevor es irgendwelche Sanktionen gibt. Auf solch eine Situation muss sich Deutschland konkret vorbereiten.
Mit May-Britt Stumbaum sprach Markus Lippold
Quelle: ntv.de