"Welt von heute ist gnadenlos" Von der Leyen schwört auf Überlebenskampf in "neuer Weltordnung" ein


„Europa kämpft“, beginnt von der Leyen ihre Rede.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Angesichts der geopolitischen Eskalationsspirale gibt sich die EU-Kommissionspräsidentin kämpferisch. Nach Russlands Attacke auf Polen fordert sie weitere Maßnahmen gegen Moskau. Auch "extremistische israelische Minister" sollen nach von der Leyens Willen sanktioniert werden.
Pathos, emotionale Momente und eine lebendige Mimik: Ursula von der Leyen ist dafür bekannt, in ihren Reden Großes zu beschwören. Doch so eindringlich und energisch wie heute sprach die EU-Kommissionspräsidentin selten. Die Nachricht über das Eindringen russischer Drohnen in den polnischen Luftraum überschattet ihre Rede zur Lage der Union vor dem Europaparlament. Laut von der Leyen hatte der Kreml mit "mehr als zehn Shahed-Drohnen" aus iranischer Produktion angegriffen.
Finsterer als von der Leyen blickt nur die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas drein, mit tiefen Ringen unter den Augen. Kallas teilt am Morgen mit, bei der "schwerwiegendsten Verletzung des europäischen Luftraums durch Russland seit Beginn des Krieges", verdichteten sich die Hinweise, "dass sie absichtlich erfolgte und nicht versehentlich".
Von der Leyen schwört die Europäer auf nichts weniger als den Überlebenskampf in einer "neuen, auf Macht basierenden Weltordnung" ein. "Europa kämpft" - so beginnt sie ihre Rede. Dann erklärt sie, wie sie damit gehadert habe, ihre Ansprache mit einer solch schonungslosen Aussage zu beginnen. Am Ende habe sie sich dafür entschieden, denn: "Die Welt von heute ist gnadenlos".
"Abhängigkeiten werden als Waffe eingesetzt"
Zwischen Großmachtfantasien und imperialistischen Kriegen anderer Staaten kämpfe die EU nun um ihre Unabhängigkeit. Nur in der Autonomie sieht von der Leyen eine Überlebenschance, da "Abhängigkeiten schonungslos ausgenutzt und als Waffe eingesetzt werden." Wen von der Leyen damit meint, ist klar: Für Erpressungen nutzt Chinas Präsident Xi Jinping Europas Bedarf an seltenen Erden aus China, sein amerikanischer Amtskollege Donald Trump greift zum Hebel der europäischen Abhängigkeit vom US-Militär - und im Kreml freut sich Wladimir Putin, dass die Europäer noch immer kräftig russische Energieträger einkaufen.
"Wir bemühen uns, von russischen fossilen Brennstoffen wegzukommen", sagt von der Leyen. Einige EU-Mitgliedstaaten wie die Slowakei und Ungarn importieren noch immer russisches Gas über Pipelines - wesentlich mehr von ihnen kaufen LNG aus Moskau, vor allem Frankreich und Spanien. Zudem lassen sich die Europäer trotz ihres Embargos über Indien auch noch mit Produkten aus russischem Rohöl beliefern.
Die Europäer schwächen sich selbst, wenn sie weiter Handel mit dem russischen Aggressor betreiben, der die Nachkriegsordnung bedroht. Von der Leyen scheint sich dessen bewusst zu sein. Die EU-Kommission will Importe von russischem Gas schrittweise bis 2027 stoppen. Das dürfte sich angesichts der pro-russischen Quertreiber unter europäischen Staatenlenkern wie Viktor Orban in Budapest oder Robert Fico in Bratislava aber schwierig gestalten.
Russisches Zentralbank-Vermögen wird nicht angefasst
Für dieses Problem nennt von der Leyen keine direkte Lösung, betont aber, sie habe den politischen Willen, die Demokratie in Europa zu verteidigen. Sie sagt, es brauche dringend neue Lösungen für die finanzielle Unterstützung der Ukraine - aber auch hierbei sind sich die Mitgliedstaaten uneins. Gegner umfassender Finanzhilfen sind aber nicht nur Ungarn und Slowaken, auch südeuropäische Länder haben teilweise eine ablehnende Haltung, da sie sich offenbar aufgrund der geografischen Ferne nicht allzu sehr von Russland bedroht fühlen.
Einen Lösungsansatz für die Ukraine-Hilfen sieht von der Leyen in der verstärkten Nutzung der Zinsen, die das eingefrorene Vermögen der russischen Zentralbank abwirft. Es handelt sich um 210 Milliarden Euro, die beim Verwalter Euroclear in Brüssel liegen. Die Kommissionspräsidentin will jedoch nicht - in Übereinstimmung mit der Bundesregierung - der Forderung der baltischen Staaten nachkommen: Die wollen das gesamte russische Vermögen einkassieren und der Ukraine geben.
Ferner warnt von der Leyen vor der russischen Kriegswirtschaft und ihrer "schieren industriellen Kraft", die die Ukrainer trotz ihrer Erfolge an der Front in die Knie zwingen könnte. Um die militärische Innovation der Ukraine zu unterstützen, werde Europa sechs Milliarden Euro aus dem ERA-Darlehen der G7-Staaten vorziehen und eine Drohnen-Allianz mit der Ukraine eingehen, kündigt von der Leyen an. Zudem will die Kommissionspräsidentin die osteuropäischen Staaten durch ein Programm namens Eastern Flank Watch unterstützen. Das Programm zielt etwa auf eine weltraumgestützte Echtzeit-Überwachung der Grenzen zu Russland, "damit keine Truppenbewegung unbemerkt bleibt". Zudem wolle die EU den "Appellen unserer baltischen Freunde nachkommen und den Drohnenwall errichten."
Für von der Leyen ist "inakzeptabel", was "in Gaza geschieht"
Von der Leyen spricht über einen weiteren geopolitischen Brandherd: den Krieg im Gazastreifen. Angesichts der humanitären Lage im Palästinensergebiet kündigt sie an, Zahlungen der EU an Israel einzustellen. Die Zusammenarbeit mit der israelischen Zivilgesellschaft oder der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sei davon nicht betroffen, stellt sie klar. Nie zuvor übte von der Leyen derart scharfe Kritik am Vorgehen Israels. Es sei "inakzeptabel", was "in Gaza geschieht". Dies müsse enden.
Viele Abgeordnete applaudieren der Kommissionspräsidentin für ihre klaren Worte - einige von ihnen tragen rote Bekleidung als ein Zeichen des Protests gegen das Vorgehen Israels in Gaza. Von der Leyen kündigt Vorschläge der Kommission für Maßnahmen gegen Israel an, darunter Sanktionen gegen "extremistische israelische Minister und gewalttätige israelische Siedler". Zudem werde die Kommission eine "teilweise Aussetzung des Assoziierungsabkommen im Bereich des Handels" vorschlagen.
Zwischenrufe stören von der Leyens Rede
Entscheiden kann die Kommission das aber nicht allein. Und die Mitgliedstaaten sind sich uneinig in der Beurteilung von Israels Offensive in Gaza. Es werde "schwer, für diese Vorschläge im Rat der europäischen Staats- und Regierungschefs Mehrheiten zu finden", räumt von der Leyen ein. Mehrere Länder, darunter Frankreich, Belgien und Spanien, haben in den vergangenen Monaten eigene Maßnahmen angekündigt.
Traditionell macht von der Leyen in der Rede zur Lage der Union einen thematischen Rundumschlag: Sie spricht über Europas Wettbewerbsfähigkeit, grüne Technologien, den digitalen Euro, über Forderungen nach einer Kapitalmarktunion und Investitionen in KI-Gigafabriken. Nach Ausführungen zur "europäische Strategie zur Armutsbekämpfung" und neuen Handelspartnern wie den Mercosur-Staaten wird es noch einmal spannend.
Von der Leyen schlägt eine Initiative gegen Desinformation über Impfungen vor, da stören sie Zwischenrufe aus der extrem rechten Fraktion "Europa Souveräner Nationen" (ESN). Es sind Schreie von AfD-Abgeordneten, die der Fraktion angehören. Von der Leyen wendet sich ihnen zu: "Die schreiende Seite sollte sehr genau zuhören."
Doch die Rufe werden lauter, als von der Leyen über die Rechtsstaatlichkeit und den Schutz der Demokratie spricht. Die Kommissionspräsidentin erntet für ihren Vorschlag eines "Europäischen Zentrums für demokratische Resilienz" Buhrufe von den Rechtsradikalen. Von der Leyen muss erneut unterbrechen, zeigt dann auf die Abgeordneten und sagt: "Sie fürchten sich offensichtlich vor diesem neuen Zentrum."
Quelle: ntv.de