Grenzen abschotten, Tabus brechen Wie die EU die Flüchtlingskrise lösen will
24.09.2015, 10:42 Uhr
Angela Merkel will das WFP besser finanzieren und mit Assad verhandeln.
(Foto: imago/Reporters)
Die EU will kurz-, mittel- und langfristig auf die Flüchtlingsströme reagieren, die den Kontinent entzweit haben. Dazu bricht sie mit einem Tabu, das über Jahre Bestand hatte: Verhandlungen mit dem schlimmsten Verbrecher dieser Zeit.
Angela Merkel hat vor dem informellen EU-Gipfel in Brüssel eine Beichte abgelegt. Sie habe "nicht gesehen, dass die internationalen Programme nicht ausreichend finanziert sind, dass Menschen hungern in den Flüchtlingslagern". Zwar reisen die Vertreter des Welternährungsprogramms seit Jahren durch die Hauptstädte der Welt, doch immer wieder mussten sie Nahrungsrationen kürzen. Merkel will davon nichts gewusst haben. Immerhin: Um den Hunger kurzfristig zu bekämpfen, soll es nun eine Milliarde Euro für das Welternährungsprogramm und für andere Hilfsorganisationen geben. Zumindest für einige Monate werden sich die Lebensverhältnisse in den riesigen Lagern dadurch verbessern.
Das ist einer der Beschlüsse, den die Staats- und Regierungschefs der EU in der Nacht zu Donnerstag fassten. Gleichzeitig einigten sie sich auf eine bessere Sicherung ihrer Grenzen und auf eine diplomatische Initiative, die noch vor wenigen Monaten undenkbar schien.
Langfristig: Assad an den Verhandlungstisch holen
Zwei Syrien-Beauftragte haben die Vereinten Nationen bereits verschlissen. Auch der dritte wirkt völlig hilflos. Die Situation ist festgefahren. Jede der Bürgerkriegsparteien müsste mittlerweile fürchten, im Falle einer Kapitulation von den Gegnern bis auf den letzten Mann ermordet zu werden. 200.000 Menschen soll Assad auf dem Gewissen haben. Mit so jemanden zu reden? Das galt bislang als No-Go.
Doch jetzt sagt auch Merkel: "Es muss mit vielen Akteuren gesprochen werden, auch mit Assad." Dass Syrien ein sicherer Ort werden kann, solange Assad regiert, glaubt praktisch keiner der westlichen Beobachter. Wichtiger dürften darum die anderen Akteure sein, von denen Merkel spricht. Gemeint sind wohl die Führung des Iran und die Russlands. Beide unterstützen Assad und nehmen es ohne größere Kritik zur Kenntnis, wie brutal dieser vorgeht. Allerdings sind beide für den Westen zugänglicher, als sie es noch vor einem Jahr waren. Der Iran hat mittlerweile zugesichert, sein Atomprogramm von internationalen Inspekteuren kontrollieren zu lassen und damit die Voraussetzung für engere Beziehungen zum Westen geschaffen.
Russland befeuert zwar weiterhin den Krieg in der Ukraine. Doch je länger die Situation dort anhält, desto mehr sehen beide Seiten, dass man dennoch auf anderen Gebieten miteinander zusammenarbeiten muss. Gerade die Verhandlungen mit dem Iran, bei denen auch Russland mit am Tisch saß, werden immer wieder als positives Beispiel für eine Kooperation zwischen Russland und dem Westen angeführt. Die Bedingungen wären also gegeben, dass alle relevanten Akteure miteinander verhandeln: Assad, seine Unterstützer, die Syrien-Nachbarstaaten, Saudi-Arabien, die EU und die USA. Geeint würden alle durch ihr Bestreben, den Islamischen Staat zurückzuschlagen. Zumindest eine vage Hoffnung für eine langfristige Verbesserung der Situation lässt sich aus diesem Szenario ziehen. Doch solche Verhandlungen würden Monate, wenn nicht Jahre dauern.
Mittelfristig: Höhere Zäune
Eine mittelfristige Lösung des Flüchtlingsproblems lässt sich dadurch allerdings nicht erwarten. In dieser Sache setzt die EU weiterhin auf massive Mauern an ihren Außengrenzen. Zwar sagte Merkel wieder einmal an die Adresse Ungarns, für sie seien "immer wieder neue Zäune" keine Lösung. Doch damit sind lediglich die Grenzanlagen an den Südgrenzen Ungarns, also gegen Ende der Balkanroute gemeint.
Um die Balkanroute an ihrem Beginn abzukappen, sind Zäune für Merkel und ihre Kollegen sehr wohl das geeignete Mittel. Im Abschlusspapier des informellen Gipfels heißt es, die Grenzkontrollen sollten verstärkt, Frontex und Europol besser ausgestattet werden. EU-Ratspräsident Donald Tusk drückte es so aus: Es sei klar, dass die größte Welle von Flüchtlingen und Migranten erst noch kommt. "Deshalb müssen wir die Politik der offenen Türen und Fenster korrigieren."
An einigen Punkten der Grenzen sollen "Hotspots" eingerichtet werden, an denen Flüchtlinge Asylanträge stellen und sich registrieren lassen können. Was dort dann mit anerkannten Asylbewerbern geschehen soll, scheint aber noch nicht klar zu sein. Zwar haben die Innenminister beschlossen, 120.000 Menschen über die EU-Staaten zu verteilen. Doch sind damit nur jene Flüchtlinge gemeint, die sich bereits in Griechenland oder Italien befinden.
Quelle: ntv.de