Kindergrundsicherung wackelt Wie viel Geld ist genug gegen Kinderarmut?


Familienministerin Paus braucht nach eigenen Angaben mindestens 12 Milliarden Euro mehr im Kampf gegen Kinderarmut.
(Foto: picture alliance / dpa Themendienst)
Die Ampel hat offenkundig ein Problem mit Verträgen: Einmal Geeintes legen die Parteien hernach unterschiedlich aus und am Ende sitzt FDP-Chef Lindner am längeren Hebel: dem Geldhahn. Beim Streit um die Kindergrundsicherung geht es auch um die grundsätzliche Frage, ob mehr Geld auch mehr hilft.
Vielleicht ist es tatsächlich ganz vernünftig, dass die FDP den Bundesjustizminister stellt, denn Verträge können die Liberalen. "Wir wollen mehr Kinder aus der Armut holen und setzen dabei insbesondere auch auf Digitalisierung und Entbürokratisierung", heißt es im Koalitionsvertrag der Ampelparteien. Wovon dort nicht die Rede ist: mehr Geld. Doch ausgerechnet daran entbrennt gerade der jüngste Zwist im Regierungsbündnis. Vor allem die Grünen mit Bundesfamilienministerin Lisa Paus an der Spitze fordern, das gemeinsame Projekt Kindergrundsicherung auch mit mehr Geld für umfangreichere Sozialleistungen zu unterfüttern. Dem aber hat der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner am Sonntag eine klare Absage erteilt.
Wie so oft in der Dreierkoalition sind die gemeinsamen Ziele Auslegungssache. Ein Jahr ist es her, dass die Regierung eine interministerielle Arbeitsgruppe aus den Ressorts Justiz, Finanzen, Bildung (alle drei FDP), Wohnen und Soziales (beide SPD) unter Leitung des Grün-geführten Familienministeriums einberufen hat. Ein Jahr später ist aber erstens immer noch unklar, was das Vorhaben kosten soll, und zweitens, welche staatlichen Leistungen zur Kindergrundsicherung zählen sollen. Unstrittig darunter fallen
- das allen Familien zustehende Kindergeld (250 Euro),
- der bis zu 250 Euro hohe Kinderzuschlag,
- der Bürgergeld-Satz für Kinder (je nach Alter zwischen 318 und 420 Euro),
- Leistungen nach dem Teilhabegesetz wie Kostenerstattung von Klassenfahrten und monatlich 15 Euro für Sportverein, Musikunterricht und Ähnliches.
FDP sieht schon viel erreicht
Geht es um die Bemühungen, Kinderarmut zurückzudrängen, muss aus FDP-Sicht auch mitgerechnet werden, was die Koalition bereits für Kinder und Familien noch so getan hat: ein höheres Bürgergeld anstelle von Hartz IV, die Erhöhung des Wohngeldes, insbesondere für Familien, die Fortführung der kostenlosen Krankenkassen-Mitversicherung, mehr Geld für besseres Schulessen sowie der Ausbau von Ganztagsschulen und Kitas.
"Für Familien mit Kindern ist bereits viel passiert", sagte Lindner der "Bild am Sonntag". Die Bundesregierung stelle insgesamt für Familien und Kinder sieben Milliarden Euro pro Jahr mehr zur Verfügung - etwa durch das deutlich höhere Kindergeld. "Das Wesentliche für die Kindergrundsicherung ist damit finanziell getan", konstatierte Lindner.
Paus widersprach im Gespräch mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland umgehend: Die Erhöhung des Kindergeldes sei zuvorderst eine Reaktion der Bundesregierung auf die im Jahr 2022 sprunghaft gestiegene Inflation gewesen und dürfe nicht als Mehrleistung in der Kindergrundsicherung verrechnet werden. Andererseits besagt der Koalitionsvertrag genau das: Die Kindergrundsicherung soll aus einem Garantiebtrag bestehen plus weiterer Leistungen entsprechend des individuellen Einkommens. Der Sockelbetrag wird bei allen, die kein Bürgergeld beziehen, das Kindergeld sein und zählt damit sehr wohl zur Kindergrundsicherung.
Lindners Verweis auf das erhöhte Kindergeld ist im Zusammenhang mit dem Kampf gegen Kinderarmut dennoch umstritten: "Das Kindergeld wird bei den Familien, die Bürgergeld beziehen, voll angerechnet", sagte Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, im Interview mit ntv.de. Sprich: Ein Großteil der Ampel-Mehrleistungen für Kinder kommt ausgerechnet bei den Ärmsten nicht an. "Das ist politische Schaumschlägerei, die Herr Lindner da betreibt", sagte Schneider.
Warum werden Leistungen nicht abgerufen?
Interessant ist, dass beide Seiten mit nicht abgerufenen Geldern argumentieren, um ihre jeweilige Position zu untermauern. "Entscheidend wird beim Thema Kindergrundsicherung sein, dass diese Grundsicherung bei den Kindern ankommt", sagte etwa der haushaltspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Otto Fricke, im Deutschlandfunk unter Verweis auf sozialpolitische Leistungen, die gar nicht nachgefragt würden. Ein Grund dafür sei, dass Antragsverfahren zu kompliziert seien, sekundierte FDP-Fraktionschef Christian Dürr im ZDF.
Einer dieser nicht ausgeschöpften Töpfe entstammt dem Bildungs- und Teilhabegesetz, das unter anderem die 15-Euro-Gutscheine für Freizeitaktivitäten bereitstellt. Nur 15 Prozent des vorhandenen Budgets werde tatsächlich genutzt, teilt das Büro von Fricke auf Nachfrage von ntv.de mit. Die Teilhabe-Gutscheine würden aber auch nach einer Bündelung der Leistungen nicht in Anspruch genommen werden, sagte Schneider, "weil die monatlich 15 Euro pro Kind nicht weiterhelfen". Einen Zuschuss für den dann noch immer zu teuren Klavierunterricht oder Fußballverein zu beantragen, bringe Eltern nicht weiter, weshalb sie gleich ganz verzichteten, vereinfachtes Verfahren hin oder her.
Das Kinderhilfswerk bestätigt auf Anfrage von ntv.de: "Tatsächlich werden die derzeitigen Leistungen, wie der Kinderzuschlag und Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets, nur in relativ geringem Maß durch anspruchsberechtigte Familien genutzt." Besonders drastisch ist dies beim bis zu 250 Euro hohen Kinderzuschlag der Fall, den Eltern mit geringem Einkommen beantragen können. "Armutsforscher gehen davon aus, dass rund zwei Drittel der Anspruchsberechtigten den Kinderzuschlag nicht in Anspruch nehmen", teilt das Kinderhilfswerk mit. Grund hierfür seien die komplizierten Antragsverfahren, komplexe Anrechnungsregeln und Einkommenshöchstgrenzen, die dazu führten, dass bei mehr Erwerbsarbeit der Kinderzuschlag abrupt eingestellt werde und Familien bei höherem Einkommen plötzlich mit weniger Geld dastehen. Die FDP-Bundestagsfraktion bestätigt: Nur zu etwa 35 Prozent würden die Gelder abgerufen.
Ein weiterer nicht ausgeschöpfter Geldtopf - den die FDP zu den Bemühungen des Bundes gegen Kinderarmut zählt - ist das Sondervermögen "Ausbau ganztägiger Bildungs- und Betreuungsangebote für Kinder im Grundschulalter". Von bereitgestellten 3,5 Milliarden Euro wurden Stand Mitte März gerade einmal 750 Millionen Euro abgerufen. Grund hierfür dürfte aber weniger die fehlende Nachfrage der Eltern nach Ganztagsbetreuung sein, sondern die knappen Planungskapazitäten vieler Kommunen, nicht vorhandene Eigenmittel und eine mehr als ausgelastete Bau-Branche. Hinzu kommt der Mangel an pädagogischen Fachkräften, der auch den Kita-Ausbau bremst.
Eltern-Förderung statt Armuts-Alimentation?
Was FDP-Haushälter Fricke "wirkungsorientierte Haushaltsführung" nennt, ist auch aus Sicht der Fachverbände ein Thema: Die bereitgestellten Milliarden erreichen zu oft die von Armut betroffenen Kinder nicht. Die Liberalen wollen neben der besseren Steuerung des Angebots deshalb vor allem bei den Eltern ansetzen und mehr von ihnen in Arbeit bringen. Schneider sagt, das gehe an der Realität vorbei: Unter den vier Millionen Hartz-IV-Beziehern seien mehr als eine Million Erwerbstätige, deren Verdienst nicht zum Leben reicht, darunter viele alleinerziehende Mütter, die nur in Teilzeit arbeiten können.
Die FDP verweist hingegen darauf, dass der jüngste Anstieg der Kinderarmut auf die allgemein hohe Zuwanderung zurückzuführen sei, nicht zuletzt auf die vielen Menschen aus der Ukraine, die überwiegend noch auf Sozialleistungen angewiesen sind. Diese Menschen gelte es schnell für den Arbeitsmarkt zu ertüchtigen. Schneider widerspricht: Auch mehr Anstrengungen brauchten Zeit, um Wirkung zu entfalten. "Es kann doch nicht sein, dass man die Kinder dieser Eltern so lange in Einkommensarmut hält."
Ähnlich sieht es auch das Kinderhilfswerk: Dessen Präsident, Thomas Krüger, fordert "eine an den tatsächlichen Bedarfen von Kindern ausgerichtete Neubemessung des kindlichen Existenzminimums". Wohlfahrts- und andere Nichtregierungsorganisationen sind sich einig, dass die Leistungssätze - insbesondere das Bürgergeld - für Familien schlicht zu niedrig angesetzt sind. Bei FDP und Teilen der SPD ist aber weiterhin die Sorge groß, dass zu hohe Leistungssätze die Arbeit zum Mindestlohn unattraktiv machen.
Es geht ums Geld
Auf mindestens zwölf Milliarden Euro schätzt Bundesfamilienministerin Paus den Mehrbedarf, wenn allein die bestehenden Leistungen nach einer Bündelung und Digitalisierung endlich bei den armutsbetroffenen Familien ankommen. Eine Erhöhung der Leistungen sei da noch gar nicht einberechnet. Unklar ist, warum der Konflikt aber jetzt schon in den Streit Haushalt 2024 reinspielt: Die Kindergrundsicherung soll zwar bis zum Sommer verabschiedet werden, aber erst 2025 kommen. Für 2023 meldet das Bundesfamilienministerium nur einen Mehrbedarf von drei Millionen Euro an, um die Kindergrundsicherung in die Spur zu setzen.
Die FDP will dennoch jetzt über die Gegenfinanzierung sprechen, bevor die Kosten zu Buche schlagen. Paus' Vorschlag, die Kinderfreibeträge herabzusetzen, überzeugt die Liberalen bislang nicht, weil das eine Mehrbelastung auch für die besserverdienende Mittelschicht bedeuten würde.
So wird einmal mehr die SPD den Ausschlag geben in dem Konflikt: Unisono bekräftigten SPD-Politiker am Montag, dass die Kindergrundsicherung in jedem Fall kommen werde. Scharfe Kritik an Lindner war aber nur von Partei-Linken aus der zweiten oder dritten Reihe zu vernehmen. Dass die Kindergrundsicherung auch zwingend mit höheren Regelsätzen einhergehen müsse, sagten prominente Sozialdemokraten wie SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert oder die Parlamentarische Geschäftsführerin Katja Mast indes nicht. Sie haben ihren Vertrag mit der FDP offenbar genau gelesen.
Quelle: ntv.de