Person der Woche: Lindner Wird der FDP-Chef zu "Christian Graf Lindnersdorff"?
05.11.2024, 10:09 Uhr Artikel anhören
Der FDP-Chef macht Ernst. Lindner hat nicht nur ein Scheidungspapier vorgelegt, sondern auch einen Macht-Plan in der Hinterhand. Wenn die Ampel-Koalition ihm im November nicht folgt, zieht er den entscheidenden Trumpf. Dann könnte in vier Monaten neu gewählt werden.
Der Kanzler, die SPD und die Grünen mögen toben. Doch Christian Lindner hat jetzt die Karten der Regierungsmacht in seiner Hand. Das Reformpapier des Finanzministers ist für die Ampelregierung ebenso klar wie final. Lindner hat einen machtpolitischen Trumpf in der Hinterhand, der nur noch in diesem November sticht. Es muss nämlich jetzt ein Bundeshaushalt verabschiedet werden. Die Verabschiedung des Haushalts ist zugleich das letzte Vorhaben, für das Olaf Scholz zwingend eine eigene Parlamentsmehrheit braucht.
Gäbe es hier noch einmal einen Kompromiss, könnte Scholz hernach auch ganz ohne die FDP die restlichen Monate bis zur Neuwahl eine Minderheitsregierung anführen. Der Kanzler könnte die FDP-Minister nach einem Haushaltsbeschluss sogar mit empörter Beschimpfung und Vorwürfen von Blockade und Illoyalität wahlkampfwirksam entlassen. Die FDP stünde abgefertigt und gedemütigt da.

Solange der Haushalt nicht steht, sitzt Christian Lindner als Bundesfinanzminister an einem sehr langen Hebel.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das aber setzt die FDP und Christian Lindner zusätzlich unter Druck, jetzt eine Entscheidung zu suchen. Dabei hat Lindner einen Trumpf in der Hinterhand: Lindner kann - sollten die Koalitionäre keine Haushaltseinigung erzielen - aufgrund der Sonderrechte des Finanzministers die Etatposten in der Not einfach anweisen und in der Höhe sperren. Das heißt: Sollte es keinen Haushaltskompromiss geben, würde Lindner einen Not-Etat anordnen. Das brächte den Kanzler unter Zugzwang, ihn sofort zu entlassen. Gibt es also beim Haushalt keine Einigung, dann sticht Lindners Trumpf: An Vertrauensfrage und vorgezogenen Neuwahlen führte kaum ein Weg vorbei.
Das Unken vom "Merz im März"
Der Kanzler weiß das und versucht daher, die ausgebrochene Reform- und Richtungsdebatte vom Haushaltsentscheid zu entkoppeln. Das aber dürfte die FDP nicht mehr mitmachen. Der FDP-Vize Wolfgang Kubicki sagt, was die Mehrheit seiner Fraktion denkt: "Die Ampel hat ihre Legitimation verloren. Die Menschen haben den Eindruck, diese Koalition schadet dem Land." Die FDP kann dem Haushalt und einer Fortsetzung der Koalition daher nur noch zustimmen, wenn diese Regierung drastisch umkehrt und dem marktwirtschaftlichen Lindner-Reformplan folgt.
Da dies sehr unwahrscheinlich ist, steigt jetzt stündlich die Wahrscheinlichkeit, dass die Ampelregierung tatsächlich noch im November platzt.
In der FDP kursieren bereits Überlegungen, dass vorgezogene Neuwahlen am 2. März 2025 stattfinden könnten. Erste CDU-Abgeordnete verbreiten launige Losungen: "Merz im März" stehe an. Für diesen Termin sind bereits die Bürgerschaftswahlen in Hamburg anberaumt. Befragt zu diesem denkbaren Neuwahltermin scherzte CDU-Chef Friedrich Merz auf den "Future Days" in Frankfurt vor 600 Wirtschaftsführern, dass dies passenderweise zur Lage der Ampel Karnevalssonntag sei.
Scholz' Schmidt-Moment
Vieles erinnert dieser Tage an den 9. September 1982, als ein Bote donnerstagsabends am Bonner Kanzleramt klingelte. Er überreichte einen Umschlag mit einem 33-seitigen Wirtschaftswende-Papier des damaligen Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff. Der harmlos sperrig klingende Titel lautete "Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit". Dieses FDP-Reformpapier brachte die Kanzlerschaft von Helmut Schmidt und damit die sozial-liberale Ära zum Einsturz. Die inhaltliche Parallele zur jetzigen Lage ist bis hin zur Vokabel "Wirtschaftswende" verblüffend - und sie ist von Lindner so gewollt. Damals dauerte es bis zum 17. September, also acht Tage, bis Bundeskanzler Helmut Schmidt die Koalition beendete und die FDP-Minister zurücktraten. Die Neuwahlen fanden dann ebenfalls im März statt - am 6. März 1983.
Die FDP-Fraktion unterstützt Lindners Papier und seine Strategie, die Ampel nun zur ordnungspolitischen Entscheidung zu zwingen, massiv. Die Forderung, entweder Deutschland jetzt zu kräftigen oder abzutreten, treffe die breite Stimmung in der Mitte des deutschen Bürgertums. Dort wolle man nicht noch ein Jahr des Dauerstreits und nationalen Niedergangs. Unter Liberalen macht daher mit Blick auf ihren Vorsitzenden der Spitzname "Christian Graf Lindnersdorff" die Runde.
"Lieber nicht regieren als ... "
Aus Sicht der Liberalen liegt in dieser Aktion zugleich eine letzte Chance, sich für die Neuwahlen in eine bessere Position zu bringen. Die FDP hofft offenbar, sich als Erlöser der Nation zu positionieren und damit das eigene Kernmilieu neu zu mobilisieren. Lindner habe vor der schwierigen Wahl gestanden: Es entweder ins völlige Aus laufen zu lassen wie 2013, als die FDP von der Regierungsbank in die außerparlamentarische Opposition abstürzte. Oder aber wie Lambsdorff 1982 mutig die Entscheidung zu suchen. Lindner habe sich für Letzteres entschieden und sein legendäres Diktum "Lieber nicht regieren als schlecht regieren" mit einer glaubwürdigen Wendung untermauert.
Tatsächlich spürt Lindner damit nicht nur innerparteilich plötzlichen Rückenwind. Inhaltlich wird sein Positionspapier auch von Wirtschaft und Mittelstand mehrheitlich geteilt. Zugleich sind drei Viertel der Deutschen hoch unzufrieden mit der taumelnden, zerstrittenen Ampelregierung. Lindner kann also damit rechnen, dass viele Wähler ein Ampel-Ende mit Schrecken besser fänden als ein Schrecken ohne Ende. Graf Lindnersdorff hat den Trumpf in der Hand.
Quelle: ntv.de