Aktien – die Aussichten für 2023 Neue Tiefstkurse oder Bullenmarkt?
27.12.2022, 10:17 Uhr (aktualisiert)
Auch eine Glaskugel hilft nicht. Oder doch?
(Foto: dpa-tmn)
2022 war kein gutes Aktienjahr. Ukraine-Krieg, Rezessionssorgen, vor allem aber die hohe Inflation und steigende Zinsen haben Dax, Dow und Co. unter Druck gesetzt. ntv.de hat mit drei Finanzmarkt-Experten diskutiert, ob das Schlimmste ausgestanden ist oder ob die Märkte noch einmal neue Tiefs markieren.
ntv.de: In den USA ist die Inflation auf einem hohen Niveau rückläufig. Verschafft das der US-Notenbank Fed Luft, mit den Erhöhungen der Leitzinsen in absehbarer Zeit aufzuhören?

Michael Wittek ist Portfoliomanager bei Albrecht, Kitta & Co. Vermögensverwaltung und ist für die Anlagestrategie der Vermögensverwaltung verantwortlich.
Michael Wittek: Ja, nach meiner Prognose könnte es im März die letzte Leitzinserhöhung geben. Maximal im Mai einen letzten kleinen Schritt.
Reinhard Pfingsten: Wir sind da weniger optimistisch. Zwar sehen wir durchaus, dass sich viele Inflationstreiber abschwächen werden. Allerdings haben wir 2022 alle schmerzlich erfahren, dass man die Inflationsdynamik nicht unterschätzen darf. Wir erwarten deshalb, dass die Zentralbanken im ersten Halbjahr noch restriktiv bleiben werden und eine Lockerung erst Ende 2023 anstehen dürfte.
ntv.de: Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass die Fed mit der Inflationsbekämpfung zu früh aufhört und die Teuerung nach einem zwischenzeitlichen Rückgang wieder zurückkehrt?

Marco Herrmann ist seit 1992 für renommierte Banken und Fondsgesellschaften tätig. Seit 2010 verantwortet er als Geschäftsführer die Anlagestrategie der FIDUKA.
Marco Herrmann: Wir glauben, die Fed wird versuchen, die Fehler aus den 70/80er-Jahren nicht zu wiederholen. Damals hat die amerikanische Notenbank ihre restriktive Geldpolitik zu früh aufgegeben und die Inflation ist wieder gestiegen.
Pfingsten: Ja, die Fed wird die Zinsen eher länger hoch halten, bis es eine klare Indikation gibt, dass die Inflation auch wirklich unter Kontrolle ist. Die Fed scheint auch bereit zu sein, die Kosten einer solchen Politik, das heißt, Rezession und Anstieg der Arbeitslosigkeit zu akzeptieren.
Wittek: Wir halten das Risiko, dass die Inflation wieder steigt, für gering. Der Grund ist die sich verschlechternde konjunkturelle Entwicklung.
Wird sich die Inflation 2023 nicht sowieso aufgrund von Basiseffekten zurückbilden? Öl der Sorte Brent hat im vergangenen Jahr zwischen 80 und rund 120 Dollar pro Fass gekostet. Im Vergleich zu diesen hohen Werten könnte der Preis 2023 darunter notieren und die Inflation dämpfen.

Reinhard Pfingsten arbeitet bei der Bethmann Bank als Chief Investment Officer und ist Mitglied im Management Team des globalen Investment Centers der ABN Amro Gruppe.
Pfingsten: Die entscheidende Frage lautet, ob das ausreicht. Vor allem in den USA sehen wir eine völlig überhitzte Konjunktur. Es sind hier mittlerweile viel mehr endogene Faktoren wie die Lohnentwicklung, die die Inflation treiben. Dies muss die Fed in den Griff bekommen.
Herrmann: Das trifft den Punkt. Die Lohn/Preis-Spirale ist längst in Gang gekommen. Ende 2023 wird die Inflation immer noch deutlich über der Zielmarke von zwei Prozent liegen.
Viele Börsianer gehen davon aus, dass die Fed die Inflation nur dann in den Griff bekommt, wenn sie die Wirtschaft in eine Rezession zwingt. Aber genau das passiert ja bereits? Übertreiben die Notenbanken nicht?
Wittek: Ja, gut möglich, dass die Fed überschießt. Die amerikanische Notenbank sieht für 2023 ein leichtes Wachstum der US-Wirtschaft. Ich bezweifle das.
Herrmann: Nein, die restriktive Geldpolitik muss leider noch eine Zeit lang durchgehalten werden. Zurzeit fällt es den Unternehmen noch recht leicht, höhere Kosten an die Endkunden weiterzugeben. Die Nachfrageseite muss leider noch weiter geschwächt werden.
Was bedeutet das für die Unternehmensgewinne. Sind die Schätzungen der Analysten realistisch oder müssen diese noch nach unten korrigiert werden?
Pfingsten: Tatsächlich scheint immer noch etwas zu viel Optimismus in den Schätzungen zu stecken und die Auswirkungen der Rezession auf die Gewinnentwicklung nicht vollständig antizipiert zu werden.
Herrmann: Wir sehen im kommenden Jahr rückläufige Gewinne als sehr wahrscheinlich, ja fast unausweichlich an, denn die Notenbanker müssen die Pricing Power der Konzerne brechen, um die Geldentwertung zu zähmen. In der Vergangenheit sind die Unternehmensgewinne während einer Rezession meist zwischen 10 und 30 Prozent zurückgegangen.
Wittek: Die Gewinnschätzungen werden sich nach unten korrigieren. Wir kennen das aus der Vergangenheit. Die Revidierungen kommen jedoch erst, wenn es einfach nicht mehr zu leugnen ist.
In den USA sind zuletzt vor allem die Techwerte wie Amazon, Meta, die Mutter von Facebook, und Co. unter die Räder gekommen, die in den Indizes hoch gewichtet sind. In anderen Bereichen gab es deutlich geringere Kursverluste.
Wittek: Stimmt, die Tech-Werte haben am meisten unter den stark gestiegenen Zinsen gelitten. Die Bewertungen waren für ein Zinsniveau von vier Prozent einfach zu hoch.
Pfingsten: Es passt auch in ein bekanntes Schema, dass mit einer Abschwächung der wirtschaftlichen Dynamik und einem deutlich restriktiveren Finanzierungsumfeld sich defensive Sektoren mit soliden Cash-Flows einfach besser entwickeln.
Amazon oder auch Meta haben zuletzt deutlich weniger verdient und im großen Stil Mitarbeiter entlassen. Die Aktienkurse sind stark gefallen. Sind das jetzt Einstiegskurse oder funktionieren die Geschäftsmodelle der Tech-Unternehmen nicht mehr?
Herrmann: Meta hat eine Reihe von eigenen Problemen, die man nur in Bezug auf das flaue Geschäft mit Online-Werbung auf andere übertragen kann. Amazon und Google sind zyklische Opfer eines schwächelnden Konsumenten, aber strukturell weiter langfristige Gewinner. Wir sehen den Abverkauf der zurückliegenden Monate allerdings als übertrieben an und würden die günstigen Kurse zum Einstieg bei Unternehmen mit Pricing Power nutzen.
Wittek: Außerdem verfügen die großen Tech-Unternehmen über Burggräben, die das jeweilige Geschäftsmodell schützen, da es durch seine Einzigartigkeit für potenzielle Wettbewerber schwer kopierbar ist. Auch kommen sie meist ohne Netto-Schulden aus.
Jahrelang gab es einen Boom bei nachhaltigen Investments. In diesem Jahr sind aber auch Rüstungsaktien und Big Oil extrem gut gelaufen. Sorgt der Ukrainekrieg hier für einen Paradigmenwechsel?
Pfingsten: Nein, wir erwarten, dass Nachhaltigkeit weiter ein großes Thema bleiben wird. Auch wenn 2022 durch den Krieg in der Ukraine andere Prioritäten gesetzt wurden, bleibt der Klimawandel mit seinen zahlreichen negativen Auswirkungen die große Herausforderung für die nächsten Jahre. Der Krieg hat zudem gezeigt, dass erneuerbare Energien helfen können, energieautarker zu werden.
Herrmann: Den institutionellen Anlegern sind seitens der Politik die Hände gebunden. Von der Regulierungsseite werden die Daumenschrauben in den nächsten Jahren eher weiter angezogen. Eine Umschichtungswelle erwarte ich deshalb nicht.
Bedeutet China für die Aktienmärkte im kommenden Jahr eher eine Chance oder doch mehr ein Risiko?
Wittek: Tja, das ist wohl mal wieder eine Black Box. Daher eignet sich China als Beimischung zur Diversifikation.
Herrmann: Es kommt darauf an. Etwas Hoffnung, dass es aufwärts geht, ist sicherlich eingepreist. Die Anpassungen an der Null-Covid-Politik sind zunächst positiv. Allerdings bleibt offen, ob es funktionieren kann, wenn die Bevölkerung keinen ausreichenden Impfschutz besitzt und ausländische mRNA-Impfstoffe nicht zugelassen werden.
Pfingsten: Neben Corona gibt es nach wie vor große Probleme im Immobiliensektor. Die Regierung konnte hier zwar das Schlimmste verhindern. Aber es wurde viel Vertrauen zerstört. Dann gibt es noch ein politisches Risiko in China: Mit der zunehmend autoritären Ausrichtung der Politik scheint wirtschaftlicher Wohlstand nicht mehr das oberste Ziel zu sein.
Werden die Aktienmärkte 2023 noch einmal die Tiefststände von 2022 testen? Wo sehen Sie den Dax im Verlauf des kommenden Jahres?
Herrmann: Aufgrund der vielen Unwägbarkeiten werden sich die Märkte mit einigen Aufs und Abs volatil in einer Bandbreite von 20 Prozent bewegen. Mit Blick auf Ende 2023 sehen wir den fairen Wert für den Dax bei 16000 Punkten mit einem von KGV 13.
Wittek: Es wird Branchen geben, die ihre Tiefstände nicht mehr sehen. Die Indizes sind maßgeblich an das Vorgehen der Notenbanken gehalten. Die nächste Black Box also.
Pfingsten: Es ist durchaus möglich, dass die Wirtschaft in eine Rezession abrutscht, die Inflation aber deutlich zu hoch ist und die Geldpolitik somit restriktiv bleibt. Solch ein Szenario wäre sicherlich geeignet, Aktieninvestoren zu verschrecken. Es ist auch schwierig zu prognostizieren, wie genau sich die Rezession entwickeln wird. Zudem gibt es - trotz voller Gasspeicher - immer noch ein Restrisiko, dass die Energieversorgung vor größere Probleme gestellt wird. Man kann also nicht ausschließen, dass wir noch einmal deutlich tiefere Kurse sehen werden.
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(Dieser Artikel wurde am Sonntag, 25. Dezember 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de