Die Lehren der EM in England Den größten Sieg muss das DFB-Team noch holen

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Die Deutschen fahren ohne EM-Pokal nach Hause, der Titel bleibt bei den Gastgeberinnen in England. Doch Gewinnerinnen sind die DFB-Frauen trotzdem. Sie spielen im Finale, haben vier erfolgreiche Wochen und vor allem: Sie begeistern Millionen. Davon muss nun aber etwas übrig bleiben, fordern sie selbst.

Turnier als glänzende Eigenwerbung

"Equal Pay" und "Equal Play" sind bei zu diesem Turnier in aller Munde. Ersteres fordern Außenstehende, also die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen im Fußball. Das zweite würde die Spielerinnen erst einmal zufrieden stellen: Gleiche Bedingungen bei der Arbeit. Beim DFB-Team haben sie diese bekommen, das Team hinter dem Team war genauso groß wie bei den Männern.

Erstmals konnten sie vorab auch in Herzogenaurach trainieren, wo sich die Männer auf die EM im vergangenen Jahr vorbereitet hatten. Beste Ausstattung für die beste Leistung. Es hat sich ausgezahlt, der Titel wäre nur das i-Tüpfelchen auf einem herausragenden Turnier gewesen. Nur ein Spiel ging bei dieser EM verloren, nur drei Gegentore kassierte die Elf. Dass es ausgerechnet das Finale war, das negativ ausging, liegt in der Natur eines Turnier-Modus. Bitter, schade, aber nichts, was die Leistung in besonderem Maße schmälert.

Niemand wusste so wirklich, wo das Team steht, Skepsis und gar Pessimismus waren die vorherrschenden Gefühle. Dann aber präsentierten sich die Spielerinnen als eingeschworene Gemeinschaft mit unglaublichem Willen, taktischer Klasse und einem Spaß, der ansteckend war. Der Funke sprang schnell über, immer mehr Millionen Menschen verfolgten vor dem TV die Spiele des deutschen Teams. Sie feierten das - leider nur beinahe perfekte - EM-Märchen von Alexandra Popp, sie begeisterten sich für die Grätschen und die Urgewalt von Lena Oberdorf, sie ließen sich von der völligen Ruhe im Sturm von Marina Hegering beeindrucken. Und wenn die Deutschen nicht gerade auf dem Platz standen, tanzte die schnell wachsende Fangemeinde mit dem Team zu "Cotton Eye Joe" und lachte über "Alexander Papp". Erfolg haben und dabei sympathisch sein ist der beste Weg, Leute auf seine Seite zu ziehen, für seine Ziele Mitstreiter zu finden - dem DFB-Team ist das glänzend gelungen.

Der Kader erweist sich als Luxus

Voss-Tecklenburg hat ein echtes Luxusproblem. Der komplette Kader, den sie für die EM nominiert hat, ist unglaublich stark. Keine andere Nation hat eine dermaßen ausgeglichene Auswahl wie Deutschland. Da finden sich absolute Leistungsträgerinnen ihrer Klubs auf der Bank wieder. Linda Dallmann etwa, beim FC Bayern Stammspielerin, wird als Backup ihrer Teamkollegin Lina Magull eingesetzt. Im dritten Gruppenspiel gegen Finnland spielte sie von Beginn an - und wurde prompt Spielerin des Spiels. In der selben Partie gab auch Sophia Kleinherne ihr Startelf-Debüt als Linksverteidigerin, spielte stark und schoss zugleich ihr erstes Länderspieltor.

Bundesliga-Torschützenkönigin Lea Schüller muss nach ihrer Corona-Infektion nach dem Eröffnungsspiel, in dem sie in der Startelf stand, hinter der Alles-und-immer-Torschützin Popp zurückstecken. Torhüterin Almuth Schult hat sich nach ihrer Babypause mit der Rolle als Ersatzfrau für Merle Frohms zufrieden geben müssen, dritte Frau fürs Tor ist mit Ann-Katrin Berger die Dritte der FIFA-Welttorhüterinnen-Wahl. Mit Jule Brand und Sydney Lohmann hat der DFB zwei der verheißungsvollsten Talente im Kader, nicht zu vergessen dass die Stammspielerinnen Lena Oberdorf, Klara Bühl und Giulia Gwinn auch erst 20, 21 und 23 Jahre jung sind. Der Kader vereint Erfahrung und Talent, Abgeklärtheit und Unbekümmertheit. Das passte wunderbar für dieses Turnier - und macht Hoffnung für die Zukunft.

Das ganze Team hat erfolgreich an sich gearbeitet

"Ich war immer sehr dominant. Ich wollte am liebsten von vorne bis hinten als Trainerin alles alleine machen", sagte Martina Voss-Tecklenburg über ihre Anfänge beim DFB-Team. Wenige Monate vor der Weltmeisterschaft 2019 in Frankreich hatte sie die Stelle als Bundestrainerin übernommen und musste mit dem viel größeren Stab als bei ihrer vorherigen Anstellung als Schweizer Nationalcoach erstmal klarkommen. Mit Britta Carlson, Patrick Grolimund und Thomas Nörenberg hat sie gleich drei Assistenten, hinzu kommen Torwarttrainer Michael Fuchs und mittlerweile auch Jan-Ingwer Callsen-Bracker als Neuroathletiktrainer. 2019, beim WM-Viertelfinal-Aus, wirkte im Trainerteam längst nicht alles so harmonisch wie jetzt, die vergangenen drei Jahre haben alle an sich gearbeitet. "Diese Qualität hier von den sportlich Verantwortlichen, die ist so gut und auch eingespielt. Das gibt mir als Trainerin eine viel größere Sicherheit", sagte Voss-Tecklenburg nun.

Das gilt auch für die Kooperation mit den Spielerinnen, mit denen es in der Vorbereitung auf die EM mehrfach gekracht hat. Reinigende Gewitter offenbar, klärende Gespräche, führten zu mehr Verständnis füreinander. Die "Belastungssteuerung" war so ein Punkt, die Spielerinnen forderten mehr Einheiten auf dem Platz, inzwischen nimmt die Trainerin die Spielerinnen mehr mit, baut auch auf Eigenverantwortung. "Wir sind mit der Zeit enger zusammen gerückt. Das Trainer-Team bindet uns ein, wir geben ihm Rückmeldungen", sagte Svenja Huth. Lena Lattwein erklärte in der DFB-Doku "Born for this": "Diese schwierigen Phasen haben gut getan, wir haben es geschafft uns auszusprechen, uns wieder neu zu finden."

In England betonen nun alle immer wieder, auch ungefragt, wie gut die Stimmung im Team ist. "Wie wir gerade auf dem Platz zusammenstehen, das macht mich unglaublich stolz", sagte etwa Kapitänin Alexandra Popp nach dem Halbfinale. "Ich bin schon seit zehn Jahren dabei - und so einen Teamspirit, so ein Teamgefüge habe ich ganz ehrlich noch nie erlebt." Denn auch, wer nicht mitspielen darf, ist mit vollem Einsatz dabei. Laura Freigang schreit sich in jedem Spiel die Seele aus dem Leib, Schult bringt Trinkflaschen, alle pushen, motivieren, sitzen kaum still. Kleinherne betonte bei ntv/RTL, noch nie habe sie so eine "lebendige Bank" erlebt. Der Begriff prägte die EM.

Team profitiert von detaillierter Vorarbeit

So ein Spiel startet nicht erst mit dem Anpfiff. Ganz wichtige Arbeit wird bereits vorher geleistet. Scouts und Spielanalysten beobachten die Gegnerinnen, erstellen Taktikprofile, finden Schwächen heraus. Bis zu sechs Scouts seien bei dieser EM im Einsatz, hatte Co-Trainerin Britta Carlson erzählt, dazu kommen die Analysten des Teams. Sie verfolgen die Spiele der künftigen Gegnerinnen im Stadion, begutachten Videos etc. Eine von ihnen ist Ailien Poese, die nach dem Turnier vom DFB zum 1. FC Union wechselt und dort das Regionalliga-Team der Frauen in Richtung Bundesliga coachen soll. Sie erklärte der ARD ihre Arbeit bei der EM, bei der sie vor allem versuche, die Schwachstellen der gegnerischen Teams zu erkennen und entsprechend auszumachen, wie die Deutschen zu Torchancen kommen können. "Ist es sinnvoller, direkt anzulaufen, weil die Viererkette in Ballbesitz nicht so gut ist oder ist es besser, sich zurückzuziehen, weil die tiefen Räume hinter der eigenen Kette gefährlich belaufen werden?", frage sie sich etwa. "Wer fällt mit einem Muster auf, was sind mannschaftstaktische Muster, nach denen sie spielen?"

Mit diesem Haufen an Informationen wird das Team gebrieft - und das läuft bei dieser EM ganz herausragend. Nach dem Halbfinale gegen Frankreich (2:1) sagte Popp, dass ihr Team genau wusste, dass Kapitänin Wendie Renard, Innenverteidigerin und bei Standards brandgefährlich, bei Flanken von rechts herausrückt und in ihrem Rücken Räume zum Einlaufen entstehen. Auch dass Torhüterin Pauline Peyraud-Magnin Schwächen hat, wenn sie von der ballfernen Seite angelaufen wird, war den Deutschen mitgegeben worden. Es sollte sich lohnen. Schon im Viertelfinale gegen Österreich hatte sich die gute Analyse ausgezahlt. Torwarttrainer Fuchs war aufgefallen, dass Torhüterin Manuela Zinsberger mit dem Ball am Fuß Schwächen hat. Popp lief sie daraufhin das gesamte Spiel über aggressiv an - und erzielte mit dieser Taktik das entscheidende 2:0 (90.).

Was bleibt von dem Turnier?

"Wenn nicht jetzt, wann dann?", sagte Martina Voss-Tecklenburg am Tag vor dem Finale über das, was bleiben soll. "Wir werden am Ende nur dann gewinnen, wenn wir all das, was gerade passiert, mit einer Nachhaltigkeit beenden können. Nicht, dass es jetzt ein Event ist, das jetzt gerade oben ist und alle freuen sich dran, nein, es muss etwas davon übrig bleiben. Es muss eine große Chance sein, in allen Ländern die nächsten Schritte im Frauenfußball zu machen." Auch Svenja Huth ist eine engagierte Mahnerin, den Fußball der Frauen auf ein neues Level zu heben. "Das wäre ein toller Erfolg, wenn wir es schaffen, die Menschen hier zu begeistern, zu gewinnen, aber auch nachhaltig zu binden", sagte die Flügelspielerin. Denn es geht längst nicht nur ums DFB-Team, für das im kommenden Jahr bereits die Weltmeisterschaft in Australien und Neuseeland ansteht.

Es geht auch um die Bundesliga, die für den Großteil der Öffentlichkeit noch immer unter dem Radar läuft. Die 31-Jährige vom Meister und Pokalsieger VfL Wolfsburg will endlich bessere Strukturen, bessere Bedingungen, dauerhaft mehr Interesse an ihrem Sport. Das viel benannte "Equal Play" soll Wahrheit werden, und die Zuschauerzahlen in der ganzen Bundesliga sollen steigen. Durchschnittlich nicht einmal 1000 Zuschauende in den Stadien sind längst nicht genug.

Mit gutem Beispiel voran gehen wird die Bundesliga beim Start in die neue Saison. Gleich im Eröffnungsspiel kommen Laura Freigang, Nicole Anyomi, Sophia Kleinherne und Sara Doorsoun wieder mit Klara Bühl, Giulia Gwinn, Lina Magull, Lea Schüller, Linda Dallmann und Sydney Lohmann zusammen, dann als Gegnerinnen. Denn die Champions-League-Teilnehmerinnen von Eintracht Frankfurt empfangen den FC Bayern am 16. September im großen Frankfurter Stadion. Dass so eine Arena voll werden kann, zeigte der FC Barcelona im vergangenen Jahr eindrucksvoll in der Champions League - mehr als 90.000 waren dabei, als Barca im Halbfinal-Hinspiel den VfL Wolfsburg empfing.

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Auch die TV-Präsentation spielt eine große Rolle, die Bundesliga wird von MagentaSport übertragen, was gut ist, weil es eine Bühne bietet. Aber eben keine, die ein Millionenpublikum verspricht. Beim ersten Auswärtsspiel der Meisterinnen wird das anders sein, die Partie bei der TSG Hoffenheim am 24. September wird auch die ARD im Programm haben. Apropos TV, Torhüterin Almuth Schult mahnt immer wieder, dass eine Übertragung mit nur wenigen Kameras, mit weniger Aufwand also, natürlich keine so spektakulären Bilder bieten könne, der Fußball sehe dann immer langsamer aus als bei einem hochwertigen Angebot.

Und dann doch noch einmal zum DFB-Team: Anstoßzeiten für etwa WM-Qualifikationsspiele am frühen Nachmittag mitten in der Woche sind überaus unglücklich. Nur wenige haben dann Zeit, einzuschalten oder gar ins Stadion zu gehen. Geschuldet sind diese Berichten zufolge den übertragenden öffentlich-rechtlichen Sendern, die keine großen Einschaltquoten erwarten. Dass es anders sein kann, hat die EM eindrücklich gezeigt.

Quelle: ntv.de

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