EM-Analyse mit Hickersberger "Ich müsste lügen. Ist nicht notwendig"
17.06.2016, 09:24 Uhr
Es war nicht schön und es sah auch nicht schön aus.
(Foto: AP)
Im EM-Duell von Fußball-Weltmeister Deutschland mit Polen leidet Mario Götze im Sturmzentrum, n-tv.de EM-Experte Josef Hickersberger leidet am Spiel. Das 0:0 findet Österreichs früherer Nationaltrainer glücklich - fürs DFB-Team. Glücklich ist er aber auch, dass ihm als Coach eine Hosengate-Blamage wie von Joachim Löw erspart geblieben ist. Peinlich berührt ist er von etwas ganz anderem: der katastrophalen Leistung seiner Österreicher beim EM-Auftakt.
n-tv.de: Deutschland gegen Polen, erste Nullnummer der EM. Herr Hickersberger, bitte reden Sie uns dieses Spiel schön!

Zwischen 1987 und 1990 sowie zwischen 2006 und 2008 war Josef Hickersberger Trainer der österreichischen Nationalmannschaft. Für n-tv.de analysiert er die deutschen EM-Spiele.
(Foto: imago sportfotodienst)
Josef Hickersberger: Das Spiel war nicht … schlecht.
Es war halt ganz einfach von taktischen Überlegungen geprägt. Beide Mannschaften wussten, dass sie sich mit einem Unentschieden schon für die K.-o.-Phase qualifizieren können. Und beide haben auf Defensive großen Wert gelegt, die Polen natürlich in viel größerem Ausmaß. Sie haben in vielen Phasen mit neun, zehn Spielern sehr tief verteidigt, den Strafraum verbarrikadiert. Da ist es eben ganz schwierig, gute Angriffe vorzutragen und Chancen herauszuspielen.
Hat Ihnen das Spiel gefallen?
Nein. Ich müsste lügen und das ist nicht notwendig um diese Zeit.
Trotz Polens zeitweiliger Zehnerkette hat Jerome Boateng nach dem Spiel gesagt, man könne froh sein, "dass wir 0:0 gespielt haben". Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, das kann man schon so sehen. Polen hat eine sehr gute Chance vorgefunden. Und dass Robert Lewandowski aus nichts ein Tor macht, die Gefahr besteht ja immer.
Boateng übernimmt bei der EM bislang die Rolle als deutscher Chefkritiker. Vor dem Spiel hatte er moniert, dass sich die Offensivkollegen gegen die Ukraine zu wenig an der Abwehrarbeit beteiligt hätten.
Das haben Sie diesmal gemacht!
Stimmt, aber die Frage ist: Hat das DFB-Team diesmal zu viel verteidigt?
Nein, Deutschland hat zu null gespielt, das war eine Voraussetzung für dieses Spiel. Die DFB-Elf musste sich im Defensivverhalten steigern, das hat auf alle Fälle geklappt. Ein Hintergedanke war vielleicht auch: Mats Hummels spielt das erste Mal seit dem Pokalfinale wieder, erstes EM-Spiel, keine Spielpraxis. Da ist es natürlich wichtig, dass alle Spieler ihn dabei unterstützen und gut nach hinten arbeiten.
Für Hummels hat Bundestrainer Löw mit seiner eisernen Regel gebrochen und bei einem Turnier erstmals im Vergleich zum Eröffnungsspiel seine Startelf geändert. Wie haben Sie Hummels gesehen?
Für mich hat er schon noch Potenzial nach oben, aber das ist ja klar nach einer längeren Pause. Er war, würde ich sagen, solide. Über Mats Hummels brauchen wir aber nicht zu diskutieren. Er braucht jetzt ganz einfach ein paar Spiele, die wird er bekommen. Er wird bald wieder der Alte sein.
Wer war diesmal Ihr Spieler des Spiels?
Hat's keinen gegeben. Alles Durchschnitt.
Wie schon gegen die Ukraine kam das deutsche Angriffsspiel nicht in Schwung. Wie viele Sorgen müssen wir uns um die Offensive machen?

Gegen Polens temporärer Zehnerkette fehlte es Deutschland an offensiven Genieblitzen.
(Foto: REUTERS)
Ich glaube nicht, dass man sich bei der Klasse der Spieler, die Deutschland in der Offensive zur Verfügung stehen, große Sorgen machen muss. Andere Mannschaften wie Spanien haben auch große Probleme gehabt, eine stark defensiv eingestellte Mannschaft zu besiegen. Selbst wenn man es vorher weiß: Das ändert nichts an der Tatsache, dass es ganz schwierig ist, einen solchen Gegner zu bespielen. Da braucht es ganz einfach entweder den einen oder anderen Genieblitz oder auch etwas Glück. Und das war in diesem Spiel beiden Seiten verwehrt.
Gegen Polen hat im deutschen Angriffszentrum erst Mario Götze vergeblich auf einen Genieblitz gewartet, dann Mario Gomez. Was jetzt?
Ich habe Mario Götze unglaublich motiviert gesehen. Er hat läuferisch eine ausgezeichnete Leistung gebracht. Aber auch ein technisch so herausragender Spieler wie Götze hat es unglaublich schwer, sich bei so einem Spiel durchzusetzen und zu Torchancen zu kommen. Das liegt halt in der Natur eines solchen Spiels. Da ist es schwierig, zu brillieren.
Was hätten Sie von Thomas Müller als Sturmspitze gehalten?
Natürlich ist das eine Variante. Damit hätte das Spiel aber auch nicht viel anders ausgesehen. Thomas Müller ist ein Spieler, der Räume ahnt und spürt und findet. Aber wenn es keinen Raum gibt, kann auch er keinen finden.
Im Gruppenfinale geht es für das DFB-Team jetzt am Dienstag gegen Nordirland, das nach dem historischen Hagel-Sieg gegen die Ukraine auch vom Coup gegen den Weltmeister träumt. Wie sehen Sie die Chancen der Nordiren?
Nicht besonders hoch. Natürlich werden die Nordiren nicht nur träumen, sondern auch auf dem Platz mit großem Herz agieren. Die Fans werden die Nordiren öfter nach vorn singen. Aber sie haben ganz einfach nicht die Mannschaft, die Deutschland schlagen kann. Ich gehe allerdings davon aus, dass Nordirland nicht so defensiv agieren wird wie die Polen. Es wäre schade. Um die Zeit.
Vor dem Spiel gegen Polen hat sich Bundestrainer Joachim Löw für seine, nennen wir es Hosengriffigkeit, entschuldigt.
Genau. Wie sehr hat Sie diese EM-Episode aus dem Ukraine-Spiel daheim in Wien eigentlich aufgewühlt?
Aufgewühlt hat es mich nicht. Aber irgendwo war ich froh, dass mir wenigstens so etwas nicht passiert ist. Das ist keine angenehme Geschichte, auch für den Jogi, der ja in seiner langen Zeit als Bundestrainer schon sehr vieles erlebt hat. Zum Glück ist der Poldi für ihn in die Bresche gesprungen und hat bei der Pressekonferenz eine sehr gute … (überlegt) … Erklärung gefunden. Mehr Worte darüber sollte man gar nicht verlieren.
Das stimmt. Als Couchtrainer kann man aber nur schwer nachvollziehen, dass man sich in einem Stadion mit Zehntausenden Zuschauern derart vergessen kann. Können Sie das?
Das kann ich sehr wohl nachvollziehen! Dass man so auf das Spiel fixiert ist, dass man alle anderen Verhaltensweisen nicht mehr kontrollieren kann. Wer einmal in solchen Spielen gecoacht hat, der kann sich zumindest vorstellen, dass man sich so vergessen kann.
Trotz der vielen Leute und Kameras im Stadion?
Die werden doch völlig ausgeblendet. Man denkt nicht an Leute, man denkt nicht an Zuschauer, an Kameras. Man denkt nur an Fußball.
Wo wir hier unter uns sind: Verraten Sie uns Ihren peinlichsten Stadion-Moment als Spieler oder Trainer?
(überlegt) Ich kann mich an keinen erinnern. Peinlich war die Niederlage gegen die Färöer. Aber sonst? Das ist eh schon das Schlimmste, was man sich vorstellen kann.
Apropos peinlich: Österreich gegen Ungarn, EM-Auftakt. Hans Krankl hat das 0:2 als "Katastrophe" bezeichnet. Was sagt Josef Hickersberger?
Da will ich gar nicht widersprechen. 0:2-Niederlage gegen den objektiv schlechtesten Gruppengegner im Auftaktspiel einer Europameisterschaft, das ist schon eine mittlere Katastrophe. Ich bin natürlich schwer enttäuscht, genauso wie alle. Ich war zweimal Teamchef dieser Mannschaft, mehrere Spieler kenne ich noch aus der Zeit von 2008. Und außerdem bin ich Fan und Österreicher. Ich hatte mir einfach viel mehr erwartet. Es war auch nicht so, dass Ungarn brillant gespielt hätte. Wir waren ganz einfach schlecht.
Sind Sie schon gefragt worden, ob Sie als EM-Nothelfer einspringen würden? Wir könnten Ihre Nummer rausgeben.
(lacht) Nein, bitte nicht!
Angenommen, Sie wären doch wieder Teamchef. Mit welchen Worten würden Sie die Mannschaft vor dem zweiten EM-Spiel gegen Portugal auf den Rasen schicken?
Die richtigen Worte nach so einer Leistung zu finden, ist sehr schwierig. Motivierend sollen sie ja auch sein.
Das heißt?
Ich glaube, es bedarf da eher vieler Einzelgespräche.
Mit Josef Hickersberger sprach Christoph Wolf
Quelle: ntv.de