Briten verlassen die EU "Brexit ist Warnsignal für ganz Europa"
24.06.2016, 19:32 Uhr
Die Briten haben für den EU-Austritt gestimmt. Die Folgen werden in ganz Europa zu spüren sein.
(Foto: picture alliance / dpa)
Mit ihrem historischen Nein zur EU versetzen die Briten die Finanzmärkte in Panik. Im n-tv.de-Interview erklärt EU-Experte Christian Odendahl vom Centre for European Reform in London, warum der Austritt ein schwerer Schlag für den ganzen Kontinent ist und warum die Scheidung von Europa für Großbritannien schmerzhaft wird.
n-tv.de: Großbritannien hat für den Brexit gestimmt, Premierminister David Cameron will zurücktreten. Im Rest Europas fragt man sich: Sind die Briten verrückt geworden?
Christian Odendahl: Anders als in vielen kontinentaleuropäischen Ländern war die EU für die meisten Briten schon immer mehr eine Zweckehe als eine Herzensangelegenheit. Leider hat jetzt eine knappe Mehrheit für den Brexit gestimmt, weil sie glauben, dass sich dieser Zweck überlebt hat. Klar ist aber auch, dass es ohne die zuwanderungsfeindliche Rhetorik im rechten Spektrum es niemals zum Austritt gekommen wäre.
Edward Snowden hat schon vor dem Referendum getwittert: Der Brexit zeigt, wie schnell man die Hälfte eines Volkes überzeugen kann, gegen sich selbst zu stimmen. Wie haben die Brexit-Befürworter das geschafft?
Sie haben einfach wider besseres Wissen die Fakten verdreht. Die ökonomischen Gründe sprachen eindeutig gegen einen Brexit, trotzdem wurde felsenfest das Gegenteil behauptet. Die Bevölkerung wurde verunsichert. Da hieß es zum Beispiel man wolle die ominösen 350 Millionen Pfund, die Großbritannien angeblich jede Woche an die EU zahle, lieber ins eigene Gesundheitssystem stecken. Noch vor dem offiziellen Ergebnis hat Nigel Farage, der Chef der britischen Unabhängigkeitspartei UKIP, dieses zentrale Wahlversprechen kassiert. Auch in den europakritischen Zeitungen wie dem Telegraph oder der Daily Mail wurde Stimmung gegen die EU gemacht. Dabei wurde mindestens übertrieben, in vielen Fällen schlicht die Unwahrheit behauptet. Hinzu kam eine massive Kampagne gegen vermeintliche Überfremdung und Zuwanderung aus der EU, die einen Teil der Bevölkerung angesprochen hat. Nur so konnten die Briten überzeugt werden, gegen ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu stimmen.
Warum haben die Briten soviel Wut im Bauch?
Leider ist Großbritannien damit nicht allein. Diese diffuse Wut gibt es in vielen Ländern. Der Brexit ist der erste große Erfolg der Rechtspopulisten im Westen. Das ist natürlich ein Warnsignal für ganz Europa. Vielleicht ist die Unzufriedenheit der Menschen doch größer als wir dachten.
Schotten und Nordiren haben gegen den Brexit gestimmt und stellen das Vereinigte Königreich nun infrage. Kommt vor dem Zerfall der EU noch die Aufspaltung Großbritanniens?
Ein zweites Unabhängigkeitsreferendum in Schottland hat die schottische Regierungschefin ja bereits angekündigt. Die wirtschaftlichen Argumente für Schottland als eigenes Land waren nie besonders stark, aber jetzt haben wir eine neue Situation. Durch die Abspaltung von London könnte Edinburgh in der EU bleiben. Allerdings hätten weder die Schotten noch die Nordiren bei der Unabhängigkeit viel zu gewinnen: Sie sind beide sowohl eng mit dem Rest Großbritanniens verflochten, als auch mit der EU. Wenn sie sich für eine Seite entscheiden müssen, kann dabei nichts Gutes herauskommen.
Auch ohne eine schottische Sezession sind die Kosten des Brexit bereits enorm: Das Pfund ist elf Prozent eingebrochen, die Londoner Börse um acht Prozent, die Barclays-Bank hat 30 Prozent verloren. Wie schlimm wird es für die britische Wirtschaft noch werden?
Auf die britische Wirtschaft kommt eine lange Periode der Unsicherheit zu. Es wird unter Umständen Jahre dauern bis klar ist, wie das neue Verhältnis zu Europa aussieht. Falls Großbritannien den Zugang zum gemeinsamen Markt verliert, hätte das schwerwiegende Folgen für britische Firmen. Und bis feststeht wie es weitergeht, werden sie kaum investieren, das schwächt das Wachstum. Auch einige Banken werden umziehen, auch wenn natürlich nicht die gesamte Londoner City nach Frankfurt oder Paris abwandern wird. Den Handel der Industrie wird es noch stärker treffen. Aber es kommt alles darauf an, worauf man sich nun politisch einigt. Die Entwicklungen an den Börsen sind ein Vorgeschmack auf das, was womöglich noch kommt.
Welche Rolle wird Großbritannien mit einem schwachen Pfund, weniger Banken und womöglich ohne Schottland und Nordirland in der Welt noch spielen?
Die Briten werden durch den Brexit auf jeden Fall an politischer Bedeutung verlieren. Für viele Länder wie die USA war Großbritannien immer die Brücke nach Europa und in die EU. Jetzt wo die Briten diese Verbindung freiwillig gekappt haben, braucht man sie nicht mehr so stark als Partner. Falls die britische Wirtschaft weiter unter Druck gerät oder Schottland oder Nordirland aus dem Vereinigten Königreich austreten sollten, wird sich der Abstieg noch beschleunigen. Daran besteht kein Zweifel.
Die Scheidung von der EU hat London noch gar nicht offiziell eingereicht. Wie lange wird es dauern, bis die Briten und die EU wirklich getrennte Wege gehen?
Nach Artikel 50 im EU-Vertrag müssen die Trennungsverhandlungen in zwei Jahren abgeschlossen sein. Doch selbst beim einzigen Präzedenzfall, dem Austritt Grönlands in den Achtziger Jahren, haben sie schon drei Jahre gedauert. Und da ging es hauptsächlich um Fisch. Allein der Abschied der Briten von der EU wird sich also vermutlich jahrelang hinziehen. Und dann beginnen erst die Verhandlungen über die neuen Verträge mit der EU wie zum Beispiel ein Freihandelsabkommen. Das kann erfahrungsgemäß fünf bis zehn Jahre dauern. Die Frage ist, wie man es politisch schafft, die Unsicherheit und die Verluste für die Wirtschaft während des Übergangs möglichst klein zu halten.
Gert Wilders hat schon getwittert: "Hurrah! Zeit für ein Referendum in Holland!". Bricht die EU nach dem Brexit jetzt auseinander?
Ich glaube nicht, dass wir soweit sind. In den meisten Ländern hat die EU einen viel höheren Stellenwert als in Großbritannien. Nicht überall wird man dem Ruf der Populisten nach Volksabstimmungen so leicht nachgeben. Aber natürlich stärkt der Brexit alle Rechtsparteien, vom Front National in Frankreich bis zur AfD in Deutschland. Die EU steckt deswegen auch in der Zwickmühle: Eigentlich will Brüssel Großbritannien weiter als Partner behalten. Aber gleichzeitig muss die EU die Scheidung für London einigermaßen schmerzhaft gestalten. Denn Europa muss wohl auch ein abschreckendes Zeichen setzen, um weitere Abspaltungen nach britischem Vorbild zu verhindern.
Was bedeutet der Brexit ganz konkret für die Menschen: Müssen EU-Ausländer jetzt aus London wegziehen?
Für diejenigen die schon da sind, ändert sich vermutlich nichts. Die Briten haben schon deshalb kein Interesse an einer Ausweisung von EU-Bürgern, weil auch viele Briten in Europa leben. Für zukünftige Generationen in Großbritannien und dem Rest Europas dürfte es nun aber viel schwieriger werden, in der EU beziehungsweise auf der Insel zu leben und zu arbeiten. Und das ist sehr, sehr schade.
Mit Christian Odendahl sprach Hannes Vogel
Quelle: ntv.de