Eineinhalb Jahre in sieben Monaten Hoffnung für Analphabeten
03.02.2010, 12:14 Uhr
Bundesweit gibt es rund vier Millionen funktionale Analphabeten.
(Foto: dpa)
Ein neues Programm zeigt Erfolge: Neben Fortschritten im Lesen und Schreiben gewinnen Analphabeten vor allem an Selbstbewusstsein. Doch nicht alle Hoffnungen erfüllen sich.
Ihren Namen können sie schreiben. Das ist mühevoll antrainiert. An Wörtern wie "Haus" oder "Maus" scheitern sie zumeist, sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen. Mit viel Kraft lavieren sie sich durch den Alltag. Bundesweit rund vier Millionen funktionale Analphabeten wollen niemanden merken lassen, dass sie nicht können, was scheinbar alle anderen selbstverständlich ständig tun: Lesen und Schreiben. Neuropsychologen der Universität Magdeburg haben ein tagesfüllendes Programm für Analphabeten entwickelt, das neben Unterricht im Lesen und Schreiben auch Kochen, Sport oder Bewerbungstraining sowie Ausflüge und ein Training am Computer enthält.
Inzwischen haben sie erste Erfolge zu verzeichnen, aber es erfüllten sich nicht alle Hoffnungen. Rund 20 Analphabeten hatten sieben Monate lang den Kurs in Osnabrück absolviert. Das Programm basiert auf der Annahme von Projektleiter Jascha Rüsseler, dass Analphabetismus nicht nur aus sozialen Gründen entsteht, etwa weil Kinder in der Schule oft gefehlt haben, sondern dass auch mangelnde Wahrnehmungsfähigkeiten wie die schlechte Unterscheidung ähnlicher Laute wie "ba" und "da" eine Rolle spielen. Das ist bei Legasthenikern so, die Forscher vermuteten Parallelen und trainierten an dieser Stelle besonders.
Kombinierte Methoden
Vor und nach dem Kurs ermittelten sie die Lese- und Rechtschreibfähigkeiten der Teilnehmer von 27 bis 58 Jahren. Das Ergebnis: Vor dem Kurs waren sie auf dem Niveau eines Grundschülers im ersten Halbjahr der ersten Klasse. Sie konnten so gut wie kein einziges Wort richtig schreiben. "Danach waren sie auf dem Level Ende des zweiten Schuljahres", erklärt Rüsseler. Dass die Analphabeten das Grundschulpensum von eineinhalb Jahren in sieben Monaten geschafft haben, liegt dem Psychologen zufolge an der Kombination der Methoden.
Dennoch: Die Forscher hatten auf mehr gehofft, etwa das Niveau der vierten Klasse. "Uns war nicht klar, dass die Teilnehmer nicht nur nicht lesen und schreiben können, sondern dass sie teilweise auch Alkoholprobleme haben oder Probleme damit, pünktlich irgendwo hinzukommen", sagt Rüsseler rückblickend. Keiner der Wissenschaftler hatte vor dem Projekt von Universität Magdeburg, dem Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft und einem Unternehmen praktische Erfahrungen mit Analphabeten.
Selbstbewusstsein stärken
Wenn auch nicht so viel wie ursprünglich erhofft, hat der Kurs doch vielen Teilnehmern praktische Hilfe mit dem schambesetzten Thema Analphabetismus gebracht. Einige können nun Formulare ausfüllen. "Ein Teilnehmer sagte, nun könne er endlich seine Post lesen, zwar langsam, aber doch selbstständig", sagt Projektmitarbeiterin Melanie Boltzmann. Vorher seien die Briefe ungeöffnet weggelegt worden. Vier andere Teilnehmer machten in der Zeit ihren Gabelstapler-Schein, der auch einen schriftlichen Test erfordert.
Der Bundesverband Alphabetisierung, der sich bemüht, Menschen zum Lesen- und Schreibenlernen zu bewegen, hält es für sicher, dass alle, die an einem Kurs teilnehmen, auch dazulernen. Allerdings sei der Erfolg unterschiedlich. Neben dem eigentlichen Lernerfolg sei es wichtig, dass die Betroffenen freier werden, ihre Ängste verlieren und an Selbstbewusstsein gewinnen. Für viele sei es ein Meilenstein
Quelle: ntv.de, Dörthe Hein, dpa