Wahrsagen war gestern Was machen Zukunftsforscher?
06.07.2011, 13:05 Uhr
Zukunftsforschung im 18. Jahrhundert. Die Zeiten sind vorbei.
Die Möglichkeit, sich an einer deutschen Uni zum Zukunftsforscher ausbilden zu lassen, besteht noch nicht lange. Zwei Semester ist er alt, der weiterbildende Masterstudiengang an der Freien Universität Berlin. Mit Gerhard de Haan, dem Leiter des Instituts Futur, spricht n-tv.de über Inhalte und Ziele der Zukunftsforschung, über den Zusammenhang zwischen Lenkrädern und Burgern, das Pech, das Frauen bei der Erfüllung ihrer Wünsche haben, über Kühlschränke, Waschmaschinen und Einfamilienhäuser mit Vorgarten, das Unvorhersehbare und über eine Sicherheit, die trügt.
n-tv.de: Herr de Haan, Sie erforschen die Zukunft. Wessen Zukunft eigentlich? Und mit welchen Zielen?

Prof. Gerhard de Haan ist Erziehungswissenschaftler und Leiter des Instituts Futur in Berlin.
(Foto: FU Berlin)
Gerhard de Haan: Zukunftsforscher sind vielfältig unterwegs. Schwerpunktmäßig gehen wir der Frage nach, wie künftige Entwicklungen aussehen, und das in den unterschiedlichsten Bereichen. Etwa in der Politik. Dort kann es zum Beispiel darum gehen, welches Verhältnis eigentlich zwischen der gewählten Politik und den Initiativen besteht, den Nichtregierungsorganisationen. Welche Bedeutung haben die? Oder auch: In welchem Maße bekommen wir neue Modi der Abstimmung? Oder neue Formen der Interessensfindung? Die läuft zurzeit ja schon ganz stark über das Web 2.0.
Dann ist da natürlich der ganze Technologiebereich. Wie entstehen eigentlich neue Technologien? Ist das immer eine Frage dessen, was die Kunden wünschen? Kann man selbst Impulse setzen? Was ist da attraktiv? Im Kontext der Mobilitätsforschung erkennt man dann neue Entwicklungen, die betreffen gar nicht nur diesen Bereich. Da geht es beispielsweise um die Haptik: Wie fasst sich ein Lenkrad an? Und dann stellt sich die Frage: Besteht ein Zusammenhang dazu, wie sich Lebensmittel anfühlen sollen?
Moment. Müssen sich Lebensmittel besonders anfühlen?
Das scheinen absurde Themen zu sein, aber es gibt gesellschaftliche Entwicklungen, wie sich die Dinge anfühlen dürfen oder sollten. Ob die hart sein müssen oder ein bisschen gesoftet. Vielleicht ist das Attraktive an einem Burger, dass man ihn so zusammendrücken kann … Da geht es natürlich darum, was auf dem Markt Trend sein kann und was nicht.
Ist es das Ziel, den Trend zu erkennen? Oder geht es Zukunftsforschern auch um gesellschaftliche Fragestellungen: Wie können wir unsere Gesellschaft verbessern und wie kommen wir da hin?
Beides.
Wenn es dann um unsere Wünsche und Ideale geht: Wie kann man davon ausgehen, dass sie mit den Idealen der Menschen von morgen übereinstimmen und dass es sich lohnt, den Weg für diese Ziele zu ebnen?
Das ist eine wunderbare Frage. Dazu muss man sagen, dass wir im Grunde über die Wünsche der Menschen zu wenig wissen. So etwas wie eine etablierte Wunschforschung gibt es nicht. Wenn man vor einigen Monaten noch das Wort "Wunschforschung" bei Google eingab, bekam man als Antwort die Frage: "Meinten Sie Fleischforschung?" Für Wunschforschung gab es keinen Eintrag. Natürlich weiß man einiges über die Wünsche, auch schon seit den 50er Jahren. Da ist interessant, zu sehen, dass sich das geschlechterdifferent verhält.
Männer wünschen sich also anderes als Frauen?
Männer haben sich in den 1950er Jahren – anders als die meisten denken – kein Auto gewünscht, sondern einen Kühlschrank und eine Waschmaschine. Das Auto kam dann in den 60er Jahren dazu. Und später dann das Einfamilienhaus, freistehend, im Grünen. Man muss sagen, dass sich die Wünsche der Männer immer in ganz starkem Maße realisiert haben. Was sie sich in den 50ern gewünscht haben, war in den 60ern da. Was in den 60ern und 70ern gewünscht wurde – das Auto haben wir inzwischen alle. Auch das Einfamilienhaus gibt es, wenn die Ressourcen dafür reichen. Die Frauen hatten da nicht so viel Glück.
Inwiefern? Blieben die Wünsche der Frauen unerfüllt?
Frauen haben sich eher etwas Immaterielles gewünscht. Liebe natürlich und Familie und Zusammenhalt mit Kindern etc. Wenn man sich die Situation heute anschaut, sieht man: Sie sind stärker abonniert auf Lebensabschnittspartner, ein Drittel der Frauen bekommt keine Kinder, die Bindungen sind nicht mehr so stark. Die Frauen hatten eher wenig Erfolg mit ihren Wünschen.
Oberflächlich lassen sich Wünsche sehr schnell erheben. Aber was sind die wirklichen Wünsche der Menschen? Um das herauszufinden, braucht man Instrumente, die eher in Richtung Tiefeninterviews gehen. Da wird bisher wenig gemacht.
Und die Wünsche der künftigen Generationen?
Da muss man sagen: Wir können nicht wissen, ob das die der heutigen sind.
Dann sind Wünsche also eine schlechte Basis für gezielte, langfristige Veränderungen in der Gesellschaft?

Wie wollen künftige Generationen leben? Die Zukunftsforscher der FU haben sich den Konzepten der Nachhaltigkeit verschrieben.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)
Eine unserer Maximen hier im Haus lautet: Wenn es um die Wünsche künftiger Generationen geht, müssen wir eine Gesellschaft aufbauen, die möglichst viele Optionen offen lässt. Wir müssen sie also so konstruieren, dass auch künftige Generationen Gestaltungspotenzial haben. Da sehen wir uns mit dem Konzept der Nachhaltigkeit auf dem richtigen Pfad. Wenn wir nichtnachhaltige Entwicklungen weiter betreiben, Ressourcen verschleißen, die Natur zerstören, soziale Gerechtigkeit nicht umzusetzen versuchen, dann schränken wir die Möglichkeiten künftiger Generationen ein. Mit dem Konzept der Nachhaltigkeit kann man sagen: Es gibt eine gewisse Win-Win-Situation für die heutigen Menschen und für künftige Generationen. Dafür müssen wir uns engagieren, so ist unsere Idee.
Wenn man von Zukunftsforschung hört, denkt man auch an Unplanbares. Wird das einbezogen? Oder lässt man es außen vor?
Nein, natürlich spielt es eine Rolle. Das läuft unter dem Stichwort "Wildcard". Es bedeutet, einzuplanen, dass es unvorhergesehene und unvorhersehbare Ereignisse gibt, die zu radikalen Umstellungen führen. Der Atomunfall in Japan ist so ein Beispiel.
Das erste Mal, dass das Unplanbare systematisch berücksichtigt wurde und ein Unternehmen einen Vorteil daraus hatte, war bei Shell in den 70er Jahren während der ersten Ölkrise. Shell hatte die Wildcard gezogen. Sie hatten in der Schublade einen Plan für solche Fälle. Deswegen sind sie aus der Krise sehr gut hervorgegangen, andere eben nicht.
Mit so etwas arbeitet man in der Zukunftsforschung. Auch mit 9/11 und Bio-Hazards. Oder man fragt sich: Was wäre, wenn in Berlin der Strom für drei Tage ausfällt? Für so etwas entwickelt man Szenarien, um zu wissen, welche Handlungspotenziale da sind und was wir tun müssen, um auf solche Fälle vorbereitet zu sein.
Das heißt aber natürlich nicht, dass man sie damit komplett in den Griff bekommt. Denn im Grunde ist die Pointe ja, dass sich etwas ereignet, von dem wir nicht einmal denken, dass es sich ereignen könnte.
Trotz aller im Vorfeld durchgespielten Szenarien bleiben also Unsicherheiten…
Dort setzt die Kritik in diesem Bereich an: Wenn wir versuchen, alle Wildcards nebeneinander zu legen, wiegen wir uns in einer Sicherheit, die wir gar nicht haben. Denn genau diese Karten kommen dann vielleicht gar nicht zum Zuge, dafür aber tritt etwas ganz anderes ein. Es liegt eine Gefahr darin, zu glauben, dass man auf der sicheren Seite wäre. Beim Reaktorunfall in Tschernobyl damals, das ist gut belegt, glaubten alle: Wir haben alle Eventualitäten im Griff, und wir wissen, wie damit umzugehen ist. Und genau das war der Fehler, dass sie glaubten, das wäre alles mit Routine zu regeln. Wir sind nicht so sehr darin geübt, blitzschnell auf Überraschungen zu reagieren. Wir interpretieren alles zunächst in den alten und routinierten Mustern. Das ist eine Frage der Mentalität. Deswegen ist die Zukunftsforschung der FU Berlin auch im Bildungsbereich aktiv und fragt: Wie müssen wir eigentlich mit Unsicherheiten umgehen, ohne dass wir sie umdefinieren in Sicherheiten, von denen wir glauben, dass wir sie haben, trotz der unsicheren Situation?
Wie geht man denn mit Unsicherheiten am besten um?
Dazu gehört eine bestimmte Haltung. Man braucht so etwas wie eine Selbstwirksamkeitserwartung, eine Haltung der Bewältigbarkeit. Und man braucht eine Haltung der Entscheidungsfindung auch bei nicht vollständiger Information. Meistens geht es um Ereignisse, bei denen man relativ schnell reagieren muss und nicht in die informatorische Warteschleife gehen kann. Man kann also nicht sagen: Ok, jetzt schaue ich noch mal n-tv, dann schaue ich noch drei andere Sender, gucke noch mal in der Literatur nach, ergoogle mir noch was, und dann bin ich noch mehr verunsichert und weiß gar nicht mehr, was ich noch machen muss. Man braucht so etwas wie eine Entscheidungsfreude in unsicheren Situationen. Das ist immer ein Wagnis, das ist ganz klar. Aber man muss die Entscheidungen einfach treffen. Darin sind Frauen übrigens besser als Männer.
Die Intuition … Haben Sie in den zwei Semestern seit Bestehen des Studiengangs in Berlin schon Einblicke in die Zukunft erhalten?
Da wäre ich vorsichtig, das zu behaupten. Wir beschäftigen uns hier im Haus unter anderem mit Verhaltensoptionen von Menschen, und zwar momentan im Elektromobilitätsbereich. Die Idee ist: Man will eine Innovation in der Gesellschaft voranbringen, hier die Elektromobilität. Da kann man Anzeigen schalten oder eine Broschüre herausbringen. Aber bildlich gesprochen wirft man die über die Mauer und hofft dann, dass irgendjemand sie auffängt, liest und dann auch noch danach handelt. Das ist aber der unwahrscheinlichste Fall. Man muss vielmehr schauen: Wer spricht mit wem? Mit wem kann man sprechen, damit der oder die wiederum andere motiviert, auf Elektromobilität umzusteigen? Wenn man gute empirische Daten durch den Computer schickt, wer zu wem Kontakt hat, kann man sehen, dass Häufchen entstehen und es zu Gruppenbildungsprozessen kommt. Und dann – so ist unsere Erwartung – haben wir hier gezielte Strategien, wie wir Elektromobilität tatsächlich befördern können – mit der Ansprache bestimmter Personenkreise, die dies dann selbst weitertragen, weil andere an das, was die Gruppe sagt, glauben werden. Das ist eines der ersten Resultate, mit denen wir unterwegs sind.
Mit Gerhard de Haan sprach Andrea Schorsch.
Quelle: ntv.de